Zur Europa-Reise der Zapatistas
"Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf"

Eine Delegation der zapatistischen Bewegung soll im Sommer Europa bereisen.
Aber wer sind diese Zapatistas eigentlich und was veranlasst sie zu dieser transatlantischen Tour?

9. April 2021

Als die Zapatistas in der Silvesternacht 1993 sieben Kreisstädte im südlichen Mexiko eroberten, war das eine große Überraschung. Weder die mexikanischen Geheimdienste und das Pentagon, noch die Linke hatten diesen Aufstand kommen sehen. Seitdem ist viel geschrieben worden, sogar extrem viel, angesichts der Tatsache, dass es sich vor allem um eine von Indigenen getragene Erhebung handelte (und seitdem handelt). Die erstaunte Mainstreampresse berichtete weltweit, aber auch in intellektuellen Kreisen fand der zapatistische Aufstand großen Anklang: Die Philosophin Silvia Federici sah in ihm den Beginn der Debatte um die Commons, weil die Zapatistas sich gegen die Verfassungsänderung wandten, nach der das Gemeindeland privatisiert werden sollte; der Politikwissenschaftler John Holloway sah ein neues Paradigma für die Linke entstehen, nach der die Welt zu verändern sei, ohne die Macht zu erobern; für den dekolonialistischen Theoretiker Walter D. Mignolo verkörperten die Zapatistas eine »theoretische Revolution«, weil sie den revolutionären Marxismus mit den indigenen Weltsichten verknüpfte; der uruguayische Journalist Raúl Zibechi sagte den Zapatistas eine »dekolonialistische Revolution« nach, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

In der Tat hatte die Bewegung, die sich um die 1983 gegründete Guerilla EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Zapatistisches Heer zur nationalen Befreiung) mit einem antikolonialistischen Statement ihren ersten öffentlichen Auftritt begleitet. Das erste der von unzähligen, in ungewohnt lyrischer Diktion gehaltenen Kommuniqués der Guerilla-Bewegung lautet gleich zu Beginn: »Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf.« Die Kämpfe der Vergangenheit waren von Beginn an präsent und sind ständiger Bezugspunkt bis heute. Benannt hatte sich die Bewegung nach Emiliano Zapata (1879–1919), einem der radikalen und schließlich verratenen Protagonist*innen der Mexikanischen Revolution (1910–1920).

In langer Tradition also, und doch mit neuen politischen Mitteln wie der Abkehr vom guerilla- und parteitypischen Avantgardekonzept, etablierte sich die Bewegung im Süden Mexikos wie auch in der weltweiten Wahrnehmung: Der bewaffnete Kampf war nach rund zwei Wochen beendet, seitdem fiel kein Schuss mehr von Seiten der Zapatistas. Mit der Besetzung der Städte in Chiapas, dem südlichsten, ärmsten und ressourcenreichsten Bundesstaat Mexikos, ging die Eroberung von Ländereien und Dörfern einher. Seitdem kontrollieren die Zapatistas rund dreißig Landkreise. Dort haben sie im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts eigene, autonome Strukturen jenseits staatlicher Infrastruktur aufgebaut. Die zapatistisch kontrollierten Gebiete werden von den sogenannten Räten der Guten Regierung verwaltet, die sich rotierend aus den Dörfern zusammensetzen. Es gibt ein Krankenhaus und Gesundheitspromotor*innen, es gibt eigene Schulen, ein Taxi-Unternehmen, landwirtschaftliche Genossenschaften, gemeinschaftlich organisierte Kaffeeplantagen. Die Frauen der Bewegung haben ein weithin eingehaltenes Alkohol- und Drogenverbot durchgesetzt. Ihr Anteil in den beschlussfassenden Gremien wurde über die Jahre stets erhöht. Und das alles in einer Gegend, in der die Fußböden in den Hütten oft noch aus Lehm sind und der durchschnittliche Tagesverdienst unter zwei US-Dollar liegt. Zudem ist rund ein Drittel der mexikanischen Armee in Chiapas stationiert und umstellt die befreiten Gebiete.

Die zapatistische Bewegung hat ihre Faszination aber nicht nur aus der Anwendung basisdemokratischer Prinzipien heraus entwickelt, die es schon lange in den indigenen Dörfern gab. Sie hat zugleich auch jene Traditionen über Bord geworfen, die Frauen ausschlossen. Und sie hat von Anfang an nicht nur indigene Dörfer und die mexikanische Gesellschaft als Ganzes im Blick gehabt, sondern auch transnational mobilisiert. Bereits mit dem Datum ihres Erscheinens in der politischen Öffentlichkeit, dem 1. Jänner 1994, machte die von verschiedenen, den Maya zugerechneten, indigenen Gruppen formierte Bewegung auch ihren transnationalen Anspruch deutlich. An diesem Tag trat das Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft. Ein neoliberales Projekt, gegen das sich der Aufstand von Anbeginn an richtete. Gehörten die Armut der bäuerlichen Bevölkerung und der Rassismus gegenüber Indigenen unzweifelhaft zu den Auslösern der Bewegung, wurde mit dem Neoliberalismus aber auch die globale Dimension des Kampfes betont. Die Texte des Sprechers der Bewegung, Subcomandante Marcos, vermittelnden zwischen indigenen Weltsichten und linksradikalen Ansätzen. Mithilfe der Figur des revolutionären Käfers Don Durito gemahnte Marcos unter anderem an die Notwendigkeit transnationaler Mobilisierung. Das anfängliche Motto der Bewegung, »¡Ya Basta!«, »Es reicht!«, müsse vervielfältigt werden. Und »denkt daran«, heißt es in einem der Briefe des Subcomandante, »dass aus einem ›Nein‹ auch der Morgen entsteht«. Der Kampf gegen den Neoliberalismus mit seinen Privatisierungen und Deregulierungen wurde zu einer gemeinsamen Klammer verschiedenster Bewegungen. Der damals noch nicht sehr geläufige Begriff Neoliberalismus wurde zu einer international anschlussfähigen, politischen Kampfvokabel gemacht. In zahlreichen Kommuniqués verbreiteten die Zapatistas in ungewohnt poetischer Sprache die Ziele ihres Kampfes, die in ihrer Allgemeinheit ohnehin nie als national einzulösende gedacht waren: Land, Brot, Demokratie, Würde, Freiheit, Bildung, Gesundheit.

Neben dieser begrifflichen Ebene agierten die Zapatistas ihren transnationalen Anspruch aber auch sehr praktisch aktivistisch aus. Während in Chiapas selbst an der Einrichtung und dem Ausbau indigener Autonomie gearbeitet wurde, mobilisierte die Bewegung gleichzeitig zu großen Treffen mit internationaler Beteiligung. Geradezu legendär wurde das »Erste Intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus«, das 1996 im lakandonischen Urwald stattfand und an dem rund 5.000 Menschen aus ganz Lateinamerika und aus Europa teilnahmen. Dieses Treffen im chiapanekischen Sommerregen führte zu zahlreichen Folgetreffen und diversen aktivistischen und akademischen Veröffentlichungen. Eine »Internationale der Hoffnung« – so der Titel eines anschließend erschienenen Sammelbandes – war entstanden. Die Zapatistas seien zum »Kern einer weltweiten Widerstandsbewegung« geworden, schrieb die Ökonomin Friederike Habermann damals. Der Staatstheoretiker Joachim Hirsch sah einen »neuen Internationalismus« geschaffen, der nicht nur die politischen Systeme, sondern auch die »Lebensweise« verändern wolle.

Im Jahr darauf fand 1997 ein zweites Intergalaktisches Treffen statt, diesmal an fünf verschiedenen Orten innerhalb des spanischen Staates. Wieder fanden sich rund 5.000 Aktivist*innen zusammen, um über basisdemokratische Politikmodelle, linke Perspektiven, bäuerliche Selbstverwaltung, Feminismus, Autonomie in den Städten und vieles andere zu diskutieren. Ohne diese beiden Treffen wäre die häufig erst mit den Kämpfen gegen die Welthandelsorganisation in Seattle 1999 angesetzte, globalisierungskritische Bewegung sicherlich nicht denkbar gewesen. Als sich 2001 abzeichnete, dass die mexikanische Regierung die geforderte Autonomie nicht zugestehen, sondern durch ein verwässertes Gesetz sogar erschweren würde, mobilisierten die Zapatistas erneut in großem Stil. Im Februar und März fuhr die Kommandantur der EZLN durch 12 Bundesstaaten nach Mexiko-Stadt, begleitet von einer Buskarawane mit rund 2.000 Beobachter*innen und Unterstützer*innen, darunter etwa 300 Leute aus der Bewegung der Tute Bianche aus Italien. Jeden Tag gab es mehrere Veranstaltungen, immer wurden auch lokale Aktivist*innen einbezogen. Auch in der internationalen Mainstreampresse wurde das Ereignis noch aufmerksam verfolgt.

Zum Jahreswechsel 2007/2008 fand in La Garrucha, einem der damals fünf zapatistischen Verwaltungszentren in Chiapas, das erste internationale Frauentreffen statt. Die Verwaltungszentren, Caracoles genannt, wurden 2003 in den von den Zapatistas kontrollierten Gebieten eingerichtet und 2019 durch sieben weitere ergänzt. War dem Aufstand von 1994 bereits 1993 das »Revolutionäre Frauengesetz« vorausgegangen, das Geschlechtergerechtigkeit und grundlegende Rechte für Frauen in den indigenen Gemeinden festlegte, erweiterten die Zapatistas hier ein weiteres Mal ihren Kampfradius. Hatte sich beim Intergalaktischen Treffen 1996 noch keine indigene Frau ans Mikro getraut, wurde im Laufe der Jahre gezielt auf Ermächtigung gesetzt. Der interne Befreiungsschub wurde 2007/2008 sozusagen transnationalisiert und mit rund 3.000 Frauen aus Lateinamerika und Europa gefeiert und ausgebaut. Mit »Das Recht glücklich zu sein« ist auch zu diesem Treffen ein schöner Fotoband erschienen. An der Delegation, die jetzt 2021 voraussichtlich Europa bereisen wird, soll der Frauenanteil bei 75 Prozent liegen.

Im August und Dezember 2013 luden die Zapatistas etwa 1.500 ausgewählte Aktivist*innen aus aller Welt zur »Kleinen zapatistischen Schule« (escuelita zapatista) nach Chiapas ein. Hatten die Treffen in den 1990er-Jahren vor allem dem gegenseitigen Austausch der linken Bewegungen untereinander gedient, traten die Zapatistas nun mit gestärktem Selbstbewusstsein selbst als Vermittlerinnen ihrer eigenen Errungenschaften auf. Es ging darum, über die Erfolge des basisdemokratischen Politikmodells, aber auch des Aufbaus der selbstverwalteten Gesundheits- und Bildungssysteme zu informieren.

Auch wenn der Zapatismus innerhalb der Linken längst nicht mehr so präsent ist wie noch um das Jahr 2000 herum und aus der öffentlichen Wahrnehmung fast völlig verschwunden ist: Er hat doch seine Effekte gezeitigt und tut dies immer noch. Zapatistische Slogans wie das Attac-Motto »Eine andere Welt ist möglich!« sind in den allgemeinen Bewegungswortschatz eingegangen. Mit dem Zapatismus ist in der Linken, wie der argentinisch-mexikanische Philosoph Enrique Dussel schrieb, »der Avantgardismus definitiv überwunden« und die Demokratie zum unumgänglichen Maßstab geworden. Dass die Bewegung nicht nur in aktivistischen Diskussionen noch präsent ist, sondern auch in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Büchern immer wieder auftaucht, ist sicherlich auch ein Effekt der transnationalen Ansprüche. Die publizistische Ebene der Transnationalisierung ist nicht zu unterschätzen. Schließlich ist zu keiner indigen geprägten sozialen Bewegung auch nur annähernd so viel veröffentlicht worden wie zum zapatistischen Aufstand. Die Selbstverwaltung, die Poesie, die Emanzipation der Frauen, die Effekte auf Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch das zunehmende Engagement der Bewegung gegen fragwürdige »Entwicklungsprojekte« und die ökologische Zerstörung – kaum ein Aspekt, der nicht untersucht und beschrieben worden wäre. Im Kampf gegen infrastrukturelle Großprojekte der mexikanischen Regierung wird derzeit auch wieder in Kooperation mit Initiativen der globalen Bewegungen für Klimagerechtigkeit mobilisiert. Im Fokus steht dabei unter anderem das Mega-Projekt »Tren Maya« (Maya-Zug), das eine Trasse durch den Urwald schlagen und neue, hauptsächlich von Indigenen bewohnte Gebiete touristisch erschließen soll.

Schließlich ließe sich neben der begrifflichen, der aktivistischen und der publizistischen noch eine vierte Ebene der Transnationalisierung beschreiben. Es hat sich auch eine wirtschaftliche Dimension herausgebildet, die im fairen Handel vor allem von Kaffee aus Chiapas besteht. Initiativen wie Aroma Zapatista und Café Libertad organisieren seit Jahren auch im deutschsprachigen Raum den Vertrieb von Kaffee aus den zapatistischen Gemeinden, und das auf sehr professionellem Niveau. Auch dieser Aspekt des Handels ist in seiner transnationalen und dekolonialen Dimension nicht zu unterschätzen, schließlich waren die Kaffeeplantagen in Südmexiko jahrzehntelang in der Hand von oft deutschstämmigen Großgrundbesitzern. Dass diese mit der ansässigen indigenen Bevölkerung meist menschenverachtend umgingen, lässt sich schon in den Romanen von B. Traven nachlesen.

In Mexiko, aber auch in Lateinamerika insgesamt, nahm der politische Einfluss und die Attraktivität der zapatistischen Bewegung mit dem sogenannten progressiven Zyklus, der Regierungsübernahme verschiedener linker Regierungen etwa in Argentinien, Brasilien, Bolivien und nicht zuletzt Venezuela, deutlich ab. Vielen schien die staatspolitische Enthaltsamkeit und die zunehmend antikapitalistische Ausrichtung der Zapatistas nicht ausreichend, um Gegenhegemonien aufzubauen. Hatte der Soziologe Immanuel Wallerstein 1999 in einem Interview noch »die neuen Taktiken und die neuen Strategien« gelobt, die, vom Zapatismus ausgelöst, in den anti-kapitalistischen sozialen Bewegungen entstanden seien, wurde diese partei- und staatsferne strategische Ausrichtung nun stark kritisiert. Der trotzkistische Schriftsteller und Publizist Tariq Ali etwa interpretierte den libertären Verzicht auf staatspolitische Machtpositionen als »Aufruf, sich jeder politischen Tätigkeit zu enthalten«. Und als der heutige Präsident Mexikos, Andrés Manuel López Orbador (AMLO), 2006 als Kandidat der sozialdemokratischen PRD in den Präsidentschaftswahlkampf zog und von den Zapatistas nicht unterstützt wurde, nahmen viele Fans des als linker Hoffnungsträger hofierten Kandidaten das der Bewegung übel. Die Zapatistas organisierten statt der Unterstützung des Sozialdemokraten AMLO eine »andere Kampagne«, die sich gegen die repräsentative Logik wandte und auf basisdemokratische Mobilisierung setzte. Der Kampagne schlossen sich über 1.000 Gruppen und Initiativen in Mexiko an, auch in den sozialen Bewegungen in Lateinamerika und Europa gab es starke Resonanz.

Zur Präsidentschaftswahl 2018 stellten die Zapatistas – undogmatisch, wie sie sind – gemeinsam mit dem Nationalen Indigenen Kongress (CNI) selbst eine Kandidatin auf: María de Jesús Patricio Martínez, genannt Marichuy, Ärztin traditioneller Medizin, Nahua-Indigene und langjährige CNI-Aktivistin. Die Kandidatur blieb zwar erfolglos, mobilisierte aber ein weiteres Mal für die Ansprüche der mehr als sechzig indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos auf soziale Gleichheit und gegen das patriarchale Politsystem. An der grundlegenden Skepsis gegenüber der bürgerlichen Parteienlandschaft und an der Ausübung staatspolitischer Machtfunktionen hatte jedenfalls auch diese Wahlkampfaktion wenig geändert. Die Verlautbarungen aus dem lakandonischen Urwald, in dem viele Zapatistas leben, sind seit den 1990er-Jahren in ihrer ökologischen und anti-kapitalistischen Ausrichtung eher radikaler geworden. Das proto-anarchistische Modell allerdings, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, konnte im Hinblick auf seine milieuübergreifende Ausstrahlungskraft in den letzten Jahren nicht mehr an die globalisierungskritische Blütezeit anknüpfen. Hier wieder anzudocken und transnationale Netzwerke des Widerstands zu stärken – oder überhaupt erst wieder zu knüpfen –, das ist das Ziel der nun anstehenden Reise.

Jens Kastner

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker, er unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. Von ihm erschien unter anderem »Alles für alle! Zapatismus zwischen Sozialtheorie, Pop und Pentagon« (Münster 2011, edition assemblage).

Die Zapatistas gehen auf Europatournee und kommen (vielleicht) auch nach Österreich.

Infos unter:
https://zapatouraustria.blogspot.com/
https://www.zapalotta.org/aufruf-zur-mitarbeit/

Spendenaufruf für die Reise der Zapatistas:
Solidaritätskomitee Mexiko Salzburg
IBAN: AT81 2040 4000 4148 1813
BIC: SBGSAT2SXXX
Verwendungszweck: ZapaTourAustria