Chancen und Grenzen des fairen Handels
anhand des Fallbeispiels
der Kaffeekooperative "Mut Vitz", Chiapas, Mexiko


Vorbemerkung

Diese Broschüre ist der Abdruck einer Seminararbeit, welche am ethnologischen Seminar der Universität Zürich im Frühjahr 2000 eingereicht wurde. Der Autor ist in der Gruppe "Direkte Solidarität mit Chiapas" sowie im Verein "Café RebelDía" aktiv.


1. Einleitung

Nach einem Abriss über die Entwicklung des fairen Handels werde ich kurz auf die Geschichte des Kaffeeanbaus in Mexiko und des Welthandels mit dem "grünen Gold" eingehen. Die Möglichkeiten, Probleme und offenen Fragen, die sich für die ProduzentInnen im fairen Handel ergeben, werden anschliessend anhand der Kooperative "Mut Vitz" beispielhaft geschildert. Ich greife dabei auf die Erfahrungen des Zürcher Importkollektivs "Café RebelDía" zurück, in dem ich arbeite. Ein weiteres Kapitel skizziert die Situation für die KonsumentInnen der Produkte aus dem fairen Handel. Zuletzt sollen die grundsätzlichsten Probleme, die sich in den vorangegangenen Kapiteln angesprochen wurden, vertieft analysiert werden. Im Schlusswort entwickle ich einige Fragestellungen zur weitergehenden Erforschung des relativ neuen und meines Erachtens sehr aktuellen Phänomens des fairen Handels.
Über das Adjektiv "fair" für den alternativen Handel wurde viel und hitzig diskutiert. Inzwischen ist in diesem Zusammenhang häufig von "équitable", "ethisch" oder "nachhaltig" die Rede. Ich werde der Einfachheit halber in der folgenden Arbeit nur vom "fairen Handel" sprechen.


2. Hauptteil

2.1. Kurzer Abriss über Idee und Geschichte des fairen Handels

Ausgehend von den neuen sozialen Bewegungen, die im Zuge von 1968 entstanden, fanden sich Leute zusammen, welche die tiefen Lebensmittelpreise in den Industrieländern und die damit verbundene Ausbeutung der Dritten Welt thematisierten. Am Anfang standen symbolische Aktionen wie das Verschenken von Bananen. Bald verkauften Solidaritätsgruppen einzelne Produkte auf Informationstischen und Ende der Siebziger Jahre öffneten die ersten "Drittwelt"-Läden. Seither ist nicht nur das Bewusstsein der KonsumentInnen der Ersten Welt bezüglich der Problematik der Lebensmittelproduktion gestiegen, auch die Bewegung für den fairen Handel veränderte sich stark. Viele Erzeugnisse aus fairer Produktion sind heute nicht nur in den "Weltläden" (neuer Name und neue Organisationsform: alle Deutschschweizer Weltläden sind in der Aktiengesellschaft "Claro" zusammengeschlossen) erhältlich, sondern auch in Bioläden, im Einzelhandel und in Supermärkten. Kommerziell orientierte Läden und Verarbeitungsfirmen (bspw. Kaffeeröster) sind in das Geschäft mit den fairen Produkten eingestiegen. Label-Organisationen kontrollieren die Produktionsbedingungen und die Verarbeitung und zertifizieren das Produkt mit einem Gütesiegel. Die spezifischen Ansprüche an ein Produkt des fairen Handels wurden somit standartisiert. Und schon lange finden nicht nur klassische Kolonialwaren wie Bananen, Zucker, Schokolade, Tee oder Kaffee ihren Absatz über den alternativen oder fairen Handel, sondern auch andere Konsumgüter wie Kleider oder Teppiche.
Die Bedingungen des fairen Handels lassen sich folgendermassen kurz zusammenfassen: Die ProduzentInnen müssen in demokratisch strukturierten Kooperativen organisiert sein, der Kooperative wird ein Mindestpreis für das Produkt garantiert, die Ernte wird zu einem Drittel von der Käuferseite vorfinanziert, wenn möglich werden infrastrukturelle Verbesserungen der Kooperative sowie Ausbildung der ProduzentInnen bezahlt oder mit günstigen Krediten unterstützt. Die ProduzentInnen sollen biologischen Landbau anstreben, eine Übernutzung des Bodens vermeiden und in Mischkulturen weitere Produkte anbauen, die für den Eigenkonsum bestimmt sind oder auf dem lokalen Markt verkauft werden können. Für den Eintrag ins FairTrade-Register zahlt die Kooperative einen Betrag, die Vertriebsorganisationen der FairTrade-Produkte zahlen einen weiteren Betrag je Einheit an die Label-Organisation (bei Kaffee in der Schweiz sind das Fr.0.40/kg). Die nationalen Gütesiegel-Organisationen für die faire Produktion (bspw. Max-Havelaar, Transfair) sind in der Dachorganisation "Fair Trade Labelling Organisation FLO" zusammengeschlossen.
Die Professionalisierung des fairen Handels hatte einen grösseren Marktanteil der fair produzierten Produkte und eine breitere Bekanntheit der Weltmarktproblematik zur Folge. Doch durch die Professionalisierung des alternativen Handels und die Breitenwirkung durch das Vordringen von Labels des fairen Handels bis in die Supermärkte wurde auch Kritik laut. PionierInnen des fairen Handels bedauern eine Verwässerung der Labelkriterien, eine neue Bürokratie mit der Gründung von Dachorganisationen wie Claro und konstatieren, dass heute das aufklärerische Sendungsbewusstsein der Siebziger Jahre, sozusagen das Flugblatt, das einem zusammen mit dem Produkt in die Hand gedrückt wurde, verloren gegangen ist. Aus Sicht des ursprüglichen "alternativen" fairen Handels, der auf der analytischen Grundlage der Dependenztheorie eine Kritik am Kapitalismus und seiner "terms of trade" formuliert, hat der Dritte-Welt-Handel mit der Einführung der Gütesiegel und dem Einzug der fairen Produkte in die Supermärkte eine "Entpolitisierung, Kommerzialisierung und Institutionalisierung" (Schwendemann 2000: 12) erfahren.


2.2. Die Kaffeeproduktion in Mexiko und der Preiszerfall an der Kaffeebörse

Kaffee war nach der Banane das zweite Produkt, mit dem fairer Handel getrieben wurde. Seit der Kolonialzeit beliebtes Genussmittel- zwischenzeitlich auch als Droge verpönt- ist Kaffee aus unserem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Als klassisches Kolonialprodukt ist ein Grossteil der Produktion für den Export in den reichen Norden bestimmt. Aus der Sicht der Dritten Welt ist Kaffee nach Erdöl das zweitwichtigste Exportgut mit einem Gesamterlös von 10 bis 15 Milliarden US-Dollar jährlich (Pfeisinger/Schennach 1989: 66).
Die Kaffeestaude wird in Mexiko seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf grossflächigen "Fincas" angebaut. In den letzten Jahrzehnten pflanzen immer mehr Kleinbauern Kaffee an, die sich mit dem Ertrag aus wenigen Hektaren Kaffeeanbau ihre Existenz sichern möchten. Die Kaffeeproduktion der Kleinbauernfamilien wurde vom mexikanischen Staat seit den den späten dreissiger Jahren stark gefördert. Mit der Landreform unter dem Präsidenten Lázaro Cárdenas begann eine regelrechte "Verbäuerlichung" ("campesinización") der Kaffeeproduktion. Vor allem in marginalisierten indigenen Regionen blühte die Kaffeewirtschaft auf. Diese Phase des Protektionismus durch den mexikanischen Staat dauerte bis Ende der Achziger Jahre an. Die Kaffeeproduktion der Kleinbauernfamilien war in dieser Periode stark an die vom mexikanischen Staat kontrollierten Bauernorganisationen und somit an die seit nunmehr siebzig Jahren herrschende Staatspartei PRI gebunden.
Im Zusammenhang der staatlichen Modernisierungsversuche der Landwirtschaft ist die "Grüne Revolution" der Siebziger und Achziger Jahre ein zentrales Moment. Staatliche Organe wie das Mexikanische Kaffee-Institut "Inmecafé" versprachen den Bauern und Bäuerinnen höhere Erträge und damit ein höheres Einkommen durch den Gebrauch von Pestiziden, Fungiziden und chemischen Düngemitteln. Die erste Lieferung dieser sogenannten "Hilfsmittel" war gratis, im folgenden Jahr mussten die Bauern sie bezahlen- und bekamen dafür Kredite. Meist waren jedoch die Kaffeepreise tiefer als im Vorjahr, die Produktion stieg nicht zwangsläufig an und die Bauern verschuldeten sich zusehends. Die Versuche der intensiven Landwirtschaft waren kein taugliches Mittel zur Armutsbekämpfung. Im Gegenteil wurden durch die Intensivierung des Kaffeeanbaus wichtige Faktoren wie der Schutz der Bodenqualität und der Erhalt der Biodiversität ausser acht gelassen. Die Mischproduktion wurde vielerorts zugunsten winziger Kaffeeminifundien aufgegeben und die Lebensmittelversorgung der Familien somit drastisch verschlechtert (zur Geschichte des Kaffeeanbaus in Mexiko siehe Bartra 1995 und 1999).
Der Weltmarktpreis für Kaffee ist wie auch bei anderen Rohstoffen in den letzten Jahren stark gesunken. Einen Einschnitt in die Preispolitik und somit auch in das Überleben der Bauernfamilien bedeuteten die Ereignisse am 3. Juli 1989: Die "Internationale Kaffee-Organisation" (ICO) konnte sich aufgrund des Ausscherens der USA nicht auf eine Neufestlegung der Exportquoten einigen. Das älteste (seit 1962 bestehende) und erfolgreichste Rohstoffabkommen zwischen Produktions- und Abnehmerländern brach zusammen (Neuberger u. a. 1999: 85ff.). Seit dem 4. Juli 1989 regelt der "freie Markt" den Preis und dieser fällt an der Weltkaffee-Börse in New York regelmässig zur Erntezeit in den Keller. Just nach dem Ende der internationalen Rohstoffabkommens wurde "Inmecafé" umstrukturiert und 1992 geschlossen. Darauf folgte ein Armutsbekämpfungs-Programm namens "Pronasol", das investitionsfördernde Kredite vergab, die jedoch in der Realität der in extreme Armut abgesunkenen Kleinbauern kurzfristige Konsumkredite waren und zu weiterer Verschuldung führten. Zusätzlich wurde über "Pronasol" die staatliche Infrastruktur von "Inmecafé" an transnationale Unternehmen verschenkt (Hernández 1999).
Die nicht in Kooperativen organisierten mexikanischen Kleinbauern können ihren Kaffee nicht einmal zu den ohnehin schon tiefen Weltmarktpreisen verkaufen: Die fünf marktbeherrschenden transnationalen Unternehmen (AMSA, Jacobs, Expogranos, Becaficsa-Volcafé und Nestlé) kaufen die Bohnen zu 20 bis 30 Prozent unter dem Börsenwert ein. Die Einkäufer argumentieren, die Qualität des mexikanischen Kaffees sei im internationalen Vergleich schlecht. Zusätzlich gedrückt wird der Preis durch die katastrophale Landwirtschaftspolitik der mexikanischen Regierung, die beispielsweise jedes Jahr unter dem Vorwand der geplanten Wiederausfuhr ("Programa de Importaciones temporales") Importe von ausländischem Kaffee bewilligt. Natürlich wäre die Kaffeeproduktion in Mexiko für den nationalen Konsum ausreichend, doch die multinationalen Konzerne importieren lieber ausländischen Kaffee schon in löslicher Form für den Konsum der MexikanerInnen. Diesen billigen Importkaffee bezeichnet Luis Hernández Navarro, Berater der Kleinbauernorganisation "Coordinación Nacional de Organizaciones Cafetaleras" (CNOC), als "café basura" (ebenda), Kaffee von Abfallqualität. Die Grosskonzerne haben mit diesen Importen einen weiteres Argument, um den mexikanischen ProduzentInnen ein geringes Interesse an ihrer Ernte vorzugaukeln und den Preis zu drücken.
Die starken Preisschwankungen an der Kaffeebörse von New York haben nicht viel mit dem von den neoklassischen ÖkonomInnen zum Naturgesetz erhobenen Regelmechanismus "Angebot und Nachfrage" zu tun. Hernández (2000) erklärt dies an einem Beispiel: Im Dezember 1999, zu Beginn der Erntezeit, wurde ein Quintal (54.4 kg) zu 180 US-Dollar gehandelt. Zwei Monate später, Ende Februar 2000, als ein Grossteil der Ernte zum Verkauf bereit war, war ein Quintal gerade noch knapp 100 Dollar wert. Dies obwohl auf Angebotsseite Ende letzten Jahres noch Vorräte vorhanden waren, die Weltproduktion nicht markant anzusteigen drohte und auf der Nachfrageseite ein kleines, aber stetes Wachstum zu verzeichnen ist. Dieser dramatische Zerfall des Kaffeepreises während der Erntezeit ist den spekulativen Rohwarentermingeschäften, eine Spezialität insbesondere der fünf grössten US-amerikanischen Investmentfonds, zu verdanken (ebenda).
Die den mexikanischen Markt beherrschenden Grosskonzerne kaufen nicht direkt bei den Bauernfamilien ein, sie stellen Zwischenhändler an, die in die Provinzstädtchen fahren. Die im Dienste dieser Konzerne stehenden Einkäufer, im Volksmund "coyotes" (Koyoten) genannt, bekommen keinen Lohn, sondern lediglich Kredite für die geplanten Einkäufe in der Höhe des vom Konzern festgelegten Ankaufpreises. Somit sind die coyotes gezwungen, die Kleinbauern bei Gewicht, Qualität und letztlich beim Ankaufpreis übers Ohr zu hauen. Dem Kleinbauern bleibt jedoch nichts anderes übrig, als jedes noch so tiefe Angebot des Zwischenhändlers abzunehmen, denn niemand anders kauft ihm seine wenigen Säcke Kaffee in einer kleinen Provinzstadt ab.
Der durchschnittliche Tagesverdienst der meist indigenen Kaffeekleinbauernfamilien liegt je nach Berechnungsgrundlage zwischen 8 und 20 mexikanischen Pesos. Der offizielle Mindestlohn liegt bei 35 Pesos (rund 3.5 US-Dollar) und reicht nicht für ein Leben in Würde aus. Mit dem Erlös aus dem Kaffeeanbau, dem einzigen "cash crop" dieser Familien, sollten die (neben der Güterproduktion zum Eigenkonsum) überlebensnotwendigen Produkte wie Salz, Speiseöl und Medikamente finanziert werden. Dies ist jedoch häufig nicht möglich, die Erträge liegen teilweise bis zu 40 % unter den Investitionen in den Kaffeeanbau, die Bauernfamilien können Kredite und Zinsen nicht zahlen, die Qualität ihrer Produktion nimmt mangels Investitionsmöglichkeiten ab und einzelne Familienmitglieder werden zu Tagelohnarbeit auf Fincas oder zur Emigration in die Maquila-Betriebe und in die Grossstädte gezwungen. Die Karte der Zonen mit der grössten Armut stimmt mit derjenigen des Kaffeeanbaus in den indigenen Regionen Mexikos überein (Enciso 1999).
Der dramatische Einbruch des Kaffeepreises, die "megacrisis" (Bartra 1999) der Jahre 1989 bis 1994, die staatliche Misswirtschaft und die letztlich defizitäre Kaffeeproduktion war für die indigenen Kleinbauern in Chiapas ein mitentscheidender Faktor dafür, sich in der Befreiungsbewegung EZLN (Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung) zu organisieren und in einer Basisbefragung dem bewaffneten Aufstand vom 1. Januar 1994 mit grossem Mehr zuzustimmen.
Die mexikanische Regierung von Präsident Zedillo erkannte den sozialen Sprengstoff, der im Zerfall des Kaffeepreises schlummert. Doch statt struktureller Massnahmen zur Verbesserung der Marktposition der mexikanischen Kleinbauern versprach er lediglich Zuschüsse an die kleinen KaffeeproduzentInnen. Diese Zuschüsse werden jedoch nicht immer und nicht an alle ausbezahlt, sondern mit Vorliebe kurz vor den Wahlen an die eigene Parteibasis ausgeschüttet oder zum Stimmenkauf benutzt (ebenda).
Die unsicheren Kalkulationsbedingungen, das Scheitern der Grünen Revolution und die staatliche Vetternwirtschaft waren für viele Kleinbauernfamilien Anlass, sich in unabhängigen Kooperativen zu organisieren. Nicht mehr hilflos der Willkür der "coyotes" und den Schwankungen des Weltmarktpreises ausgesetzt zu sein und in gemeinsamer Anstrengung die Ernte möglichst direkt an die KonsumentInnen in Europa und den USA zu verkaufen ist das Ziel dieser unabhängigen Kooperativen. Auch in der Kaffeewirtschaft setzte eine Trennung der Produktion vom korporativistischen mexikanischen Staat ein (Villafuerte 1993:131). Der Emanzipations- und Organisierungsprozess der indigenen Völker Mexikos findet in den Kaffeekoporativen einen ökonomischen Ausdruck.


2.3. Fairer Handel aus der Sicht der ProduzentInnen am Beispiel Mut Vitz

Die Chancen des fairen Handels für die verarmten Bauernfamilien werde ich am Beispiel der noch jungen Kaffeekooperative "Mut Vitz" erläutern. Die Mitglieder von Mut Vitz sind in sechs Bezirken der Region "Los Altos" in Chiapas, Mexiko ansässig. Die 850 Mitgliedsfamilien sind der Basis der EZLN zuzurechnen. Die Herkunft ihres Kaffees umschreibt Mut Vitz als aus "autonomen indigenen Gemeinden im Widerstand". Diese Gemeinden begreifen sich als autonom, sie setzen in Tat um, was im Abkommen von San Andrés über die "Indigenen Rechte und Kultur" zwischen der mexikanischen Regierung und den indigenen Bewegungen unter Federführung der EZLN im Februar 1996 unterzeichnet wurde. Sie mögen nicht mehr auf eine gesetzliche Verankerung der reformunwilligen Regierung warten und haben begonnen, ihre Bezirke nach ihren Gesetzen und Vorstellungen zu verwalten (siehe dazu: Gerber 1999a). Die angestrebte indigene Autonomie stösst von seiten des Staates auf starken Widerstand, Übergriffe der mexikanischen Bundesarmee und von paramilitärischen Verbänden sind an der Tagesordnung. Der Aufbau der autonomen Strukturen in diesem "Krieg niederer Intensität" gestaltet sich sehr schwierig. Deshalb ist die Schaffung von kommunalen Wirtschaftsstrukturen ein wichtiges Ziel, um die indigene Autonomie zu stärken- denn was nützt auf die Dauer das Opfer an eine Bewegung, welche keine Verbesserung der Lebensumstände zu erreichen imstande ist?
So haben sich Familien aus den autonomen Bezirken San Juan de la Libertad (offizieller Name: El Bosque), Simojovel, Bochil, Jototol, San Andrés Sacam'chen de los Pobres (offiziell: San Andrés Larrainzar) und San Pedro Chenalhó zusammengetan und 1997 die Kaffeekooperative Mut Vitz gegründet. Die Idee der Kooperativen-Gründung stiess laut einem Interview, das die Gruppe "Direkte Solidarität mit Chiapas" mit Marcelo, einem Repräsentanten von Mut Vitz, führte, anfänglich auf Widerstand. Viele hätten in den Achziger Jahren schlechte Erfahrungen gemacht mit Kooperativen, welche die Bauernfamilien während Jahren nur in Raten auszahlen konnten. Es brauchte intensive Überzeugungsarbeit, bis die neue Kooperative gegründet werden konnte.

2.3.1. Die Produktionsumstände von Mut Vitz

Angepflanzt wird der Kaffee von Mut Vitz nach den Kriterien der biologisch kontrollierten Produktion. Dies war nicht immer so: Nach dem Experiment mit der staatlich propagierten Grünen Revolution kehrten die Bauern und Bäuerinnen meistens zurück zu einer natürlichen, extensiven Produktion ("producción natural") ohne die kostenintensiven chemischen Hilfsmittel. Seit der Gründung der Kooperative wurden mehrere Dutzend Personen in Weiterbildungskursen als "Promotores de la producción organica" ausgebildet. Diese Lehrkräfte verknüpfen das noch vorhandene Wissen ihrer ursprünglichen natürlichen Produktion mit den Vorschlägen des modernen Biolandbaus und geben ihr Wissen an andere Mitglieder der Kooperative weiter. Der Kaffee wird als terrassierte Schattenbaumanlage kultiviert. Die grösseren Bäume, welche den Kaffeestauden Schatten spenden, maximieren die Feuchtigkeit bei grosser Trockenheit, schützen die Stauden bei starken Niederschlägen und minimieren zusammen mit dem Terrassenbau die Erosion der Berghänge. Die Eindämmung der Erosion ermöglicht eine längere Nutzung des fragilen Bodens, in der Folge muss weniger Dschungel gerodet werden. Zudem können in diesen Kaffeefeldern, den "cafetales", auch Bäume angepflanzt werden, die ihrerseits ebenfalls Früchte tragen, beispielsweise Bananenpflanzen. So können sich die Familien besser ernähren und zusätzliche Güter auf dem lokalen Markt verkaufen.
Die starke Gewichtung der Umweltproblematik im Biolandbau wertet auch alternative Methoden und Technologien auf. So wird zur Schädlingsbekämpfung je nach Befall eine Chili-Tinktur, eine Schlupfwespe oder ein Pilz eingesetzt. Der bei der Ernte anfallende "Abfall", das Fruchtfleisch der Kaffeekirsche, wird als Dünger wiederverwertet. Der Biolandbau ist im Gegensatz zum intensiven Landbau arbeitsintensiver, dafür fallen die Investitionen in chemische Hilfsstoffe weg.
Trotz dieser Suche nach neuen Lösungen und Anbaumethoden stehen die Gemeinden vor dem Problem der Landknappheit. Die erst vor einer oder zwei Generationen gegründeten Dörfer haben das Umland nutzbar gemacht, teilweise ist die "milpa" (Maisfeld) oder das "cafetal" (Kaffeefeld) ein, zwei Wegstunden vom Dorf entfernt. Die Erwachsenen wissen, dass für ihre Kinder kein Land mehr zur Verfügung steht. Eine weitere Besiedelung des verbliebenen Urwalds oder Emigration in die Städte sind die einzigen beiden Möglichkeiten für die heranwachsende Generation, ein Auskommen zu finden.

2.3.2. Der bäuerliche Haushalt als Produktionseinheit und die Gemeinde als institutioneller Rahmen

Ein oft gehegtes Bild der KonsumentInnen in der ersten Welt ist das gemeinsame Werk der ProduzentInnen-Kooperativen. Diese Projektion möchte ich relativieren. Obwohl die Familien von Mut Vitz in einer Region leben, in der das politische Bewusstsein und der Organisationsgrad der Bevölkerung als hoch bezeichnet werden kann, arbeitet jede Familie für sich. Das heisst, jede Familie bewirtschaftet ihr Feld alleine, erntet alleine und jeder Familienvater verkauft seine eigene Ernte. Nur in Situationen starker äusserer Bedrohung, beispielsweise im Bezirk San Pedro Chenalhó, organisieren sich durch Paramilitärs vertriebene Kaffeebauern, um gemeinsam ihre Ernten einzubringen. Der bäuerliche Haushalt, bestehend aus dem Vater, der Mutter und den unverheirateten Kindern, ist die zentrale Produktionseinheit, auch wenn die Familien in Kooperativen organisiert sind.
Abgesehen vom einzigen "cash crop", dem Kaffee, werden andere Ressourcen auch gemeinsam bearbeitet und genutzt, beispielsweise Wasser oder Gartenanlagen. Die Gemeindeversammlung regelt den Ressourcenzugang, teilt das Gemeindeland ("ejido") in individuelle Parzellen auf und versucht auch bei Konflikten zwischen Familien zu schlichten. In vielen Gemeinden ist nur ein Teil der Familien bei der Kooperative Mut Vitz, andere wiederum sind in einer weiteren unabhängigen Kaffeekooperative, wieder andere in einer staatlich kontrollierten etc. Die Gemeindeinstanzen entscheiden nach dem Konsensprinzip und sind für das Funktionieren der Produktion und das Zusammenleben allgemein von zentraler Bedeutung. Bezogen auf die Kaffeeproduktion ist damit ein institutioneller Rahmen gegeben, der den Besitz von Land regelt. Mit dem Anschluss an die Mechanismen des Marktes geraten die Bauernfamilien in die Zwänge der Eigentumslogik, geben beispielsweise ein Ejido-Feld als Sicherheit für einen Kredit. Im Zuge des NAFTA-Abkommens wurde der Artikel 23 in der mexikanischen Verfassung dahingehend geändert, dass Ejidoland veräusserbar ist und damit für nationale und ausländische Investoren zugänglich wurde.
Eine Bauernfamilie hat so die Möglichkeit, aufgrund ihrer individuellen Interessen und Strategien ihr Land zu belehnen oder zu verkaufen und so die nach der Besitzlogik funktionierenden institutionellen Rahmenbedingungen der Gemeinde zu unterlaufen. Die lange Geschichte der Landkonflikte erweitert sich um eine weitere Dimension, beispielsweise verkaufen Bauern ihr Land, versuchen mit dem bisschen Geld einen Start in der nächstgelegenen Stadt und kommen verarmt- und als Landlose - zurück.

2.3.3. Die Aufgaben einer Kooperative und die Organisationsstruktur von Mut Vitz

Die wichtigsten Funktionen der Kooperative sind- abgesehen von der oben erwähnten Ausbildung- der Ankauf und die Vermarktung der Kaffeeernte. Der Ankauf geschieht an einem Sammelpunkt, "acopio" genannt. Hier tragen die Bauern ihre Säcke hin und die noch mit der Pergamin-Schale versehenen Kaffeebohnen werden zuerst einmal von speziell ausgebildeten Personen geprüft. Kriterien dafür sind die Feuchtigkeit (nicht zu feucht, aber auch nicht vertrocknet), die Grösse und allfällige Defekte der Bohnen. Entspricht die Ware nicht den Qualitätskriterien, wird sie nicht angenommen und der Bauer muss seinen Kaffee einem "coyote" verkaufen. Lange nicht jedes Mitglied der Kooperative Mut Vitz erfüllt trotz Schulung die strengen Qualitätskriterien, obwohl nur der beste Teil der Ernte (im Frühjahr 2000 ca. 10 %) zum Verkauf an die Kooperative bestimmt ist. Somit wird nach wie vor der grösste Teil der Ernte an die Zwischenhändler zu einem schlechten Preis verkauft. Vom letztlichen Exportpreis des Kaffees erhält der Bauer von der Kooperative rund zwei Drittel, vom Zwischenhändler nur einen Drittel (Neuberger u. a. 1999: 117).
Die Kooperative wird in ihrer Geschäftstätigkeit durch eine Label-Organisation kontrolliert. Die Ausbezahlung der Mitglieder, die Qualitätskontrollen, eine korrekte Buchhaltung und die interne Demokratie sind dafür die zentralen Kriterien. Erst wenn Mut Vitz eine Probezeit bestanden hat, wird sie definitiv ins FairTrade-Register der FLO aufgenommen. Und erst wenn der biologisch angebaute Kaffee über mehrere Ernten von den Bio-Zertifikationsorganisation als korrekt beurteilt wird, kann der Kaffee als biologisch zertifiziert verkauft werden. Letzteres ist jedoch mit hohen Auflagen verbunden: Es fehlen vor allem Trocknungsplätze aus Zement, auf denen die Ernte ausgelegt werden kann. Vielen Familien fehlt das Geld oder genügend Land, um einen solchen Trocknungsplatz anzulegen und sie trocknen ihre Kaffeebohnen auf Plastikplanen- was nach den Richtlinien des biologischen Landbaus strikte verboten ist. Erst nach längerer Prüfung und nach einem beträchtlichen finanziellen Aufwand werden einzelne Bauernfamilien das Bio-Gütesiegel erhalten.
Mut Vitz hat klare Regeln der internen Demokratie. Die Kooperative besteht aus momentan 850 "socios" (Mitgliedern), das heisst 850 Familien, was rund 8000 Personen entspricht. In jedem Dorf werden Delegierte gewählt, die an den monatlichen Sitzungen der Kooperative teilnehmen. Die Mitglieder der Kooperative wählen für die Amtsdauer von 3 Jahren einen Vorstand ("mesa directiva") mit einem Präsidenten. Der Vorstand kann durch die Mitglieder der Kooperative bei unbefriedigender Amtsführung jederzeit abgesetzt werden. Neigt sich die Amtszeit des Vorstandes dem Ende zu, wird ein neuer gewählt. Der alte und der neue Vorstand leiten die Geschäfte ein halbes Jahr gemeinsam, damit das "know-how" nicht verloren geht. Alle wichtigen Entscheide werden an die Basis zur Debatte zurückgetragen, was einerseits Machtmissbrauch verhindert, andererseits jedoch auch schnelle Entscheide in dringenden Angelegenheiten verunmöglicht .
Sehr oft haben Kooperativen die Unterstützung von Leuten aus der Entwicklungszusammenarbeit, welche eine beratende Funktion übernehmen im Aufbau der Infrastruktur, der Organisierung der Schulungen im Biolandbau und vor allem im Anschluss an den alternativen Markt. Das heisst, die BeraterInnen ("acesores") knüpfen die Kontakte zu den Organisationen des Fairen Handels, zu den Abnehmern. Die Schlüsselposition dieser meist weissen oder mestizischen BeraterInnen birgt die Gefahr des Machtmissbrauchs. So werden leider viele (Kaffee-)Kooperativen in Mexiko über lange Jahre von ein- und derselben Person beraten, werden von dieser Person abhängig und diese spielt sich immer mehr als Chef auf. Dies war bei Mut Vitz bisher nicht der Fall, im Gegenteil ist der erste Berater von Mut Vitz, der bei der NGO "Enlace Civil" arbeitete, von einer Reise in die USA nicht mehr zurückgekehrt und lebt jetzt dort. Mut Vitz hatte darauf von Anfang 1999 bis März 2000 eine Beraterin, die von der Organisation "Campesino a Campesino" angestellt ist. Eine neue Beraterperson ist momentan nicht in Sicht, wenn möglich sollen junge Leute aus den Bauernfamilien, die das Privileg hatten, eine höhere schulische Ausbildung abzuschliessen, den Anschluss ans Internetzeitalter schaffen und die Kommunikation mit dem Verarbeitungsbetrieb und den Vertriebsinstanzen in Mexiko sowie mit den FairTrade-Organisationen übernehmen. Die nur kurze Zeit von acesores betreute Kooperative hat sich meines Erachtens ein hohes Ziel gesteckt. Denn die Vermarktung, das Wissen um und das Agieren in Handelsbeziehungen ist alles andere als einfach. Klappt die schnelle Kommunikation mit den Abnehmerorganisationen nicht, wird es auch sehr schwierig werden, den Kaffee überhaupt abzusetzen. Eine gewisse Vermittlerfunktion könnten in dieser schwierigen Übergangszeit die Solidaritätsgruppen übernehmen, von denen immer wieder Einzelpersonen und Kleingruppen nach Chiapas reisen, die aber meist nicht über das notwendige Wissen des Kaffeehandels verfügen oder sich erst in das Thema einarbeiten.

2.3.4. Die Kooperative Mut Vitz im lokalen Kontext

In Chiapas hat es zahlreiche Kaffeekooperativen, die unterschiedliche politische Bindungen zu Parteien oder Bauernorganisationen haben. Mut Vitz hat bisher nur Kontakte zu der Organisation "Enlace Sur-Sur" aufgenommen, dem mexikanischen Teil von "Campesino a Campesino". Noch nicht beigetreten ist Mut Vitz der staatsunabhängigen "Coordinación Nacional de Organizaciones Cafetaleras CNOC", deren Berater Luis Hernández Navarro oben zitiert wurde. Ein offenes Geheimnis ist, dass sich in Mut Vitz Leute der Unterstützungsbasis der EZLN organisiert haben. So organisieren vor allem Leute aus Solidaritätsgruppen mit dem Kampf der EZLN den Vertrieb des Kaffees in Europa. Dennoch oder besser gerade weil sie SympatisantInnen der Guerilla sind, wollen die Kaffeebauern nicht, dass ihr Kaffee mit dem Attribut "zapatistisch" versehen wird, aus Angst vor Repression seitens der mexikanischen Bundesarmee .
Trotz der etwas umständlichen Umschreibung "Kaffee aus den autonomen indigenen Gemeinden im Widerstand" verkauft sich das Produkt bisher gut und die Kooperative konnte ihren Export von einem Container (17 Tonnen) der Ernte 1999 auf drei Container der Ernte 2000 steigern. Dieser Erfolg ist beachtlich, und der Neid anderer Kooperativen ist gross. So sah sich der Vertreter von Mut Vitz, der letzten Sommer nach Europa reiste, bei seiner Rückkehr mit Gerüchten konfrontiert, er habe sich ohne Mandat im Namen der zapatistischen Bewegung zur politischen Situation geäussert. Auch die Beraterin von Mut Vitz sah sich ähnlich schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt. Diese Gerüchte sind teilweise das Resultat der Missgunst von Beratern anderer Kooperativen. Denn trotz der grundsätzlich gleichen Interessen ist ein Konkurrenzkampf der Kooperativen um Einfluss und letzlich um Marktanteile im begrenzten und momentan gesättigten fairen Markt im Gange. In der politisch und ökonomisch äusserst angespannten Situation in Chiapas können solche Interessenkonflikte leicht geschürt werden und zu einem Kaffeekrieg ("guerra del café") führen. Die staatlichen Organe schütten wenn immer möglich noch zusätzlich Öl ins Feuer, um bei gewalttätigen Auseinandersetzungen den Vorwand für eine weitere Militarisierung der Konfliktregion zu haben.
So wurden Ende Januar und Anfang Februar 2000 vier Bauern der Kooperative Mut Vitz bei Überfällen ermordet. Dass diese Überfälle nur Bauern von Mut Vitz betrafen und die Mörder der Regierungspartei PRI nahestehen, lässt darauf schliessen, dass es sich nicht um blosse Raubmorde handelte. Die den Bauern von Mut Vitz bekannten Mörder (ihre eigenen Nachbarn!) waren durch Selbstjustiz bedroht. So entschloss sich der autonome zusammen mit dem offiziellen Gemeinderat der betroffenen Gemeinde Chavajebal, die Mörder bei der Staatsanwaltschaft des chiapanekischen Bundesstaates anzuzeigen. Diese Zusammenarbeit einer autonomen Gemeinde mit den Behörden des mexikanischen Staates ist bisher einmalig. Die mexikanische Polizei rückte dann auch aus, um die Mörder zu verhaften, allerdings musste der Staatsanwalt der Gemeinde versprechen, dass die Polizei die Gemeinde gleichentags wieder verlässt. Die Verhaftungsaktion wurde von der chiapanekischen Regierung als beispielhafte Zusammenarbeit mit den autonomen Behörden gelobt und politisch ausgeschlachtet. Ob den sehr jungen, noch minderjährigen Mördern der Prozess gemacht wird, ist fraglich. Nur zehn Tage später wurde ein weiteres Mitglied von Mut Vitz nach einem Besuch im Kooperativenbüro vermisst und später seine von Folterspuren gezeichnete Leiche entdeckt .


2.4. Fairer Handel aus Sicht der KonsumentInnen

Die KonsumentInnen in den Industrieländern wählen das Produkt Kaffee nach mehreren Kriterien aus. Die wichtigsten sind sicher der Preis und der Geschmack. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, ich möchte deshalb auf diesen Punkt hier nicht eingehen. Interessanter scheint mir, darauf hinzuweisen, dass der Preis für Kaffee in den letzten Jahrzehnten die für Kolonialwaren typische Entwicklung gemacht hat: "1960 musste ein deutscher Facharbeiter für ein Pfund Kaffee noch 2 Stunden und 50 Minuten arbeiten- heute sind es nur noch weniger als 20 Minuten" (Neuberger u.a. 1999: 19). Doch trotz dieser Dumpingpreise möchte ich eine andere Perspektive nicht aus dem Blickwinkel verlieren: Ein Max-Havelaar-Kaffee ist im Supermarkt 20-30 % teurer als eine Billigmarke. Ein FairTrade-Kaffee aus biologischem Anbau im Bio- oder Weltladen ist gleich nochmal doppelt so teuer (zwischen 27 und 32 SFr./Kg). Viele der weniger betuchten KonsumentInnen auch in den reichen Ländern können nicht so viel Geld für Kaffee ausgeben. Die Löhne sind auch hier alles andere als gerecht: Wie soll sich beispielsweise ein Gastarbeiter, der für einen miserablen Lohn in einem Biobetrieb arbeitet, einen FairTrade-Kaffee leisten können?
Wer sich fairen Kaffee leisten kann und will, stellt sich noch weitere Fragen. Die wichtigste ist: Kann ich wirklich Vertrauen haben, dass dieses Produkt nach den Regeln der FairTrade-Idee hergestellt wurde? Dieser Frage bin ich im meiner Methodenarbeit (Gerber 1999b) nachgegangen. Die Gespräche mit MitarbeiterInnen von Bioläden haben ergeben, dass das Vertrauen in die Sauberkeit der Produkte im alternativen Handel von fundamentaler Bedeutung ist .
Im Laufe der Professionalisierung des alternativen Handels entstanden wie schon erwähnt die Gütesiegel. Die Einführung eines einheitlichen Gütesiegels ist aus Konsumentensicht eine gute Sache, denn häufig wird man durch die verschiedenen Gütesiegel in den Kaufregalen eher verwirrt als informiert und zu genaueren Abklärungen fehlt meist die Zeit. In ein bekanntes Gütesiegel wie Max-Havelaar haben viele KonsumentInnen und die Bioläden ein grundsätzliches Vertrauen, das bisher auch nicht durch einzelne Skandale erschüttert wurde. Zu den Gefahren eines allgemein gültigen Labelling komme ich im nächsten Kapitel.
Trotz des in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Bewusstseins der KonsumentInnen für die Bedingungen, unter denen Produkte hergestellt werden, bleibt anzumerken, dass der Marktanteil des FairTrade-Kaffees in der Schweiz nur 5 % ausmacht, Tendenz leicht steigend (in Deutschland beträgt der Marktanteil 1%, Tendenz leicht rückläufig). Der Anteil des fairen Handels am Welthandel insgesamt beträgt gerade mal 0.001% (Gorbach 1997: 20). Zudem rückte in den Neunziger Jahren mit der "Wellness-Generation" die biologische Orientierung der KonsumentInnen stark in den Vordergrund: Die eigene Gesundheit und die Erhaltung der Natur kommt vor der Gesundheit der ProduzentInnen. Torres und Trápaga (1997:95ff.) stellen den Trend zur "natürlichen Ernährung" in den Zusammenhang der "Prozesse des Narzissmus und der Entstandartisierung im postmodernen Leben", das heisst, "die narzisstischen Individuen der Postmoderne haben ihren Körper zu einem Kultobjekt ernannt", dessen Schönheit, Jugendlichkeit und Gesundheit im Zentrum steht. In der Ernährungskultur manifestiert sich dieser Narzissmus in der Entstandartisierung des Konsums: Man wählt seine Ernährung nach biologischen, makrobiotischen, veganen, anthroposophischen Kriterien aus und in den Bioläden steht beispielsweise neben einem fairen Kaffee ein von einer Sekte hergestelltes Sojaprodukt im Regal. Es ist aufgrund dieser narzisstischen Ernährungskultur vergleichsweise schwieriger, einen fairen, aber nicht biologisch zertifizierten Kaffee abzusetzen (bspw. den Kaffee von Mut Vitz), als einen biologischen Kaffee einer normalen Finca, die den ErntearbeiterInnen höchstens den gesetzlich festgelegten Mindestlohn ausbezahlt, der zum Sterben zuviel und zum Leben zu wenig ist .


2.5. Grenzen und Risiken des fairen Handels

Im folgenden sollen einige schon erwähnte Problemstellungen des fairen Handels kritisch beleuchtet, theoretisch analysiert und Bezüge zwischen dem fairen Handel und dem Weltmarkt hergestellt werden. Die Auswahl der Aspekte beruht auf der oben entwickelten Information, weitere mögliche Theoretisierungen und offene Fragen werden im Schlusswort angesprochen.

2.5.1. Die Vergabe von Gütesiegeln aus dem Norden für die Produktion im Süden

Mit der Einführung der Labels wie Havelaar oder TransFair vor wenigen Jahren hat sich der Umsatz des fairen Handels mehr als verdoppelt- ein Wachstum, das sicher im Sinne der Produzentenkooperativen ist. In den letzten zwei, drei Jahren ist der Umsatz stagnierend, eine deutsche Supermarktkette hat sogar den fairen Kaffee wieder aus der Angebotsliste gestrichen. Die Vergabe der Gütesiegel, das sogenannte "Labelling", ist heute Gegenstand zahlreicher heftiger Diskussionen.
Die einmal festgelegten Standards für den gerechten Handel sollen allgemein gültig sein, das heisst für alle Produkte aus allen Herkunftsländern gelten dieselben Regeln. Für spezifische regionale Bedürfnisse oder Abweichungen von der Idealvorstellung ist kein Platz. Und diese Abweichungen von den erforderten Standards können zur Streichung aus dem FairTrade-Register führen. Ursula Brunner, eine der Pionierfrauen des fairen Handels, schreibt in ihrem Buch "Bananenfrauen":
"Die Erfahrungen haben gezeigt, dass ein als gerecht deklariertes Produkt nicht für immer ein gerechtes Produkt ist und bleibt. Es muss immer wieder relativiert werden. Aus diesem Grund muss es differenzierte Labels geben, die je differenzierte Aussagen machen, sowohl zu den sozialen wie zu den ökologischen Hintergründen der verschiedenen Produkte." (Brunner 1999: 172).
Kulturell verschiedene Anbaumethoden, Schwankungen der Absatzmöglichkeiten, Naturkatastrophen, Ernteausfälle durch Krankheiten, Zerwürfnisse innerhalb von Kooperativen und je nach Region und Produkt unterschiedliche Herausforderungen an die ProduzentInnen sind Faktoren der landwirtschaftlichen Produktion, welche von den nach westlicher Logik und Ethik festgelegten starren Labelstandards nicht berücksichtigt werden. Die ethnozentrische Sichtweise wird am oft angeführten Beispiel des Verbots von Kinderarbeit bei fairer Produktion am offensichtlichsten. Letzteres wurde jedoch stark relativiert, nachdem man eingesehen hat, dass beispielsweise die Mithilfe der Kinder bei der Ernte von Kaffee und Tee unabdingbar ist. Eine Erfahrung der renommierten chiapanekischen Frauenorganisation "Kinal Atzentik" zeigt die Problematik der Kinderarbeit auf: Mit der Eröffnung von Absatzmöglichkeiten für die Produktion von Textilien hat Kinal Atzentik vielen indigenen Frauen in den Altos von Chiapas erstmals ein eigenes Einkommen ermöglicht. Bald musste jedoch die engagierte NGO feststellen, dass in vielen Familien die Mütter ihre Mädchen zur Textilarbeit immer stärker einspannten und die Mädchen in der Folge weniger zur Schule gingen.
Die Diskrepanzen in dieser Wertediskussion zwischen Produzentenkooperative und FairTrade-Organisation sind gross und die möglichen Irrwege zahlreich. Dazu ein Zitat aus einer Stellungnahme von "Podie" (People's Organization for Development, Import and Export), eines Gewürzpartners von OS3 (heute "Claro") auf Sri Lanka:
"Für Podie ist alternativer Handel weder eine Philosophie noch ein Hobby. Es ist unser Leben. Wir verstehen, dass für Euch viele hohe Ideale eine Rolle spielen. Aber für uns ist beschämend, wie Ihr umfangreiche Angaben wollt, nur um zu prüfen, ob wir es wert sind, mit Euch in Kontakt zu treten. (...) Bis heute haben wir das geduldig über uns ergehen lassen. Handel, wie wir ihn verstehen und leben, ist aber mehr als nur Flugblätter zu drucken und Leute zu informieren, wie wichtig dies auch immer ist. Wir müssen überleben, und dazu müssen wir verkaufen- nicht nur heute und morgen!" (zit. nach Pilz 1996: 28).
Aus diesen Worten spricht eine Bitterkeit, die meines Erachtens viel mit dem Nord-Süd- Gefälle zu tun hat, das auch im fairen Handel nicht einfach aufgehoben wird: Mit der Vergabe von Gütesiegeln, deren Regeln nach den Vorstellungen der "kritischen" KonsumentInnen und EnwicklungshelferInnen der ersten Welt festgelegt wurden, sind nicht nur gewisse Organisationen gegenüber anderen bevorteilt. Die auserkorenen Kooperativen müssen sich auch laufend kontrollieren lassen, müssen Einblick in ihre Bücher und Strukturen gewähren und konstant den FLO-Bedingungen entsprechen. Natürlich ist eine Kontrolle nötig, denn die höheren Absatzpreise im alternativen Handel verlockten schon viele listige Geschäftemacher zu Täuschungsmanövern .
Das Problem sehe ich vor allem in der Art und Weise, wie diese Kontrollen geschehen: Die Produktionskooperativen werden nicht von einer einheimischen Label-Organisation überprüft, sondern von Organisationen aus der Ersten Welt, die ihre SpezialistInnen schicken und für deren Reise und Aufenthalt die Kooperativen aufkommen müssen. Diese Kontrollkosten sind sehr hoch und haben sich in teilweise innert wenigen Jahren vervielfacht (Gerber 1999: Anhang A). Konstatiert die "weisse" Kontrollinstanz Unregelmässigkeiten, gibt es eine Verwarnung. Reagiert die Kooperative darauf nicht, verliert sie den Eintrag im FairTrade-Register und somit ihre Absatzkanäle.
Erste Bestrebungen, diesen gutgemeinten Neokolonialismus abzubauen, sind im Gange. So gibt es beispielsweise seit kurzem in Mexiko eine mexikanische FairTrade-Labelorganisation namens "Comercio Justo México", die ein von der "FairTrade Labelling Organisation" FLO international anerkanntes Gütesiegel vergibt. Möglicherweise ist eine solche landeseigene Labelorganisation eher fähig, auf regionale, kulturspezifische Bedingungen und Problemlösungen einzugehen, obwohl natürlich auch sie aus dem Blickwinkel der hegemonialen - im mexikanischen Fall mestizischen - Landeskultur arbeitet.

2.5.2. Gerechtigkeit im Handel

Der Begriff "fairer Handel" ist auf den ersten Blick ein Paradoxon. Gerechtigkeit und Handel, wie geht das zusammen? Luis Hernández Navarro bringt dieses Paradoxon auf den Punkt:
"Die neuere Geschichte der kleinen Organisationen der Kaffeeproduzenten ist eine Geschichte der Anstrengung und des Kampfes darum, gemeinsam mit den solidarischen Konsumenten in der Metropole ein "sin sentido" (ohne Sinn) zu erschaffen: den gerechten Markt. (...) Die ökonomische Gerechtigkeit war historisch gesehen die Aufgabe des Staates und der Politik (...) aber nie Aufgabe des Marktes. Die Konkurrenz ist die Seele des Marktes; die Kooperation und die Solidarität sind die fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit. (...) Die in den entwickelten Ländern entstandenen Solidaritätsbewegungen mit den kleinen Produzenten in den unterentwickelten Ländern und das wachsende ökologische Bewusstsein im Sinne der Bewahrung der Biodiversität hat neue Märkte hervorgebracht." (Petrich 1999).
Der gerechte Markt stellt die vom Neoliberalismus missachteten Werte der nachhaltigen Ressourcennutzung, der Solidarität zwischen AnbieterIn und AbnehmerIn und der Erhaltung der Biodiversität in den Vordergrund. Dass dieser neue gerechtere Markt durch Professionalisierung und Gütesiegel eine grössere Breitenwirkung erzielte, ist die eine Seite der Medaille, die andere ist eine teilweise Unfähigkeit, auf lokal unterschiedliche Begebenheiten einzugehen und eine langfristig gesicherte Absatzgarantie unter sich verändernden Produktionsbedingungen zu geben.
Trotz dieser Einschränkungen ist die beispielhafte Wirkung des alternativen Handels nicht zu unterschätzen. Die Initiative von unten, für welche der faire Handel steht, kann als eine alternative Vorstellung dienen für die Bevölkerung, deren wachsende Unsicherheit und Unruhe gegenüber den neoliberalen Wunschvorstellungen einer nach neoklassischen Marktvorstellungen durchorganisierten Landwirtschaft mit ihren gentechnisch veränderten Produkten, Patentierungen von Pflanzen und Tieren etc. Spätestens seit dem organisierten Widerstand anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle wurde auch vielen neoliberalen Planern klar, dass da einiges ausser Kontrolle gerät.
Die Diskussionen innerhalb der WTO über Mindeststandards im Sozial- und Umweltbereich, die plötzlich salonfähig wurde, ist jedoch meines Erachtens nicht der Weisheit letzter Schluss. Im gegenwärtigen Wirtschaftsgefüge, vor allem mit der dramatischen Schuld- und Zinsknechtschaft, in der die Länder des Trikonts gehalten werden, wären solche von einem internationalen Regelungsgremium wie der WTO verfügten Mindeststandards verheerend. Nur als Billiglohnländer und Rohstofflieferanten können sich die Länder der Dritten Welt mehr schlecht als recht auf ihrem gegenwärtigen ökonomischen Niveau halten. Und die Lage grosser Teile der Bevölkerung, insbesondere der Bauernfamilien, verschlechtert sich immer noch zusehends. Die durch Institutionen wie IWF und Weltbank aufgezwungenen Strukturanpassungsprogramme fordern die Liberalisierung des Bodenmarktes: "Das Paradigma der Agrarreform, nach dem das Land denen gehören soll, die es bearbeiten, wird ersetzt durch ein anderes: Recht auf Land hat nur, wer das Geld hat, es zu kaufen" (Monsalve/Schneider: 1999).
Der alternative Handel stellt ein dem neoliberalen Denken diametral entgegengesetztes Modell dar: Nicht die Geld- und Eigentumslogik stehen im Vordergrund, sondern die Ökonomie ist eingebettet in die anderen kulturellen Werte wie kollektives Handeln, Reziprozität, Solidarität. Die Entscheidungsgremien sind nicht in den höheren und höchsten Sphären der Politik und der Firmenkonglomerate zu finden. Entscheidungsprozesse der ProduzentInnen finden auf der kommunalen oder regionalen Ebene statt und beruhen auf Konsens. Die Mittelmänner und-frauen im Geschäft des alternativen Handels bemühen sich, den KonsumentInnen durch Aufklärungsarbeit die fairen Produkte schmackhaft zu machen und arbeiten- meist - nicht gewinnorientiert. Und schliesslich hat auch die Endverbraucherin und der Endverbraucher das gute Gefühl, durch den Kaufentscheid einen kleinen Beitrag zum Abbau des Nord-Süd-Gefälles geleistet zu haben.
FairTrade ist eine Alternative zu FreeTrade. Ich halte es jedoch aus den oben angeführten Gründen nicht für möglich, dass die Härte des Neoliberalismus durch die Einführung von Mindeststandards abgefedert werden kann. Gerechter Handel erfordert ein grundsätzliches Umdenken. In vielen lokalen Ansätzen ist dieses Umdenken geschehen. Ob nach der geradezu explosiven Nachfrage nach "biologisch" produzierten Nahrungsmittel eine ähnliche Entwicklung für die Durchsetzung neuer Handelsgrundsätze nach dem Vorbild des FairTrade geschehen wird, bezweifle ich. Im Gegenteil hat die Geschichte der Bioprodukte gezeigt, dass die idealistischen Vorstellungen der Pioniergeneration nicht zur Marktethik werden, sondern nur eine stark abgespeckte Version dieser Idee auf dem kommerziellen Markt Fuss fasst. Eine ähnliche Entwicklung geschieht auch im fairen Handel. Andrea Schwendemann (2000:12ff.) beschreibt in ihrem Artikel "FAIRlightung" diese Entwicklung und kommt zum Schluss, dass mit der Vergabe des Transfair-Gütesiegels an kommerzielle Rohkaffeeimportfirmen und Röstereien sowie durch die Vermarktung von fairem Kaffee in Supermärkten auf die "Marktfähigkeit der Gerechtigkeit" gesetzt wird. Das Konzept "Gerechtigkeit" ermögliche gute Geschäfte, eine grundsätzliche Kapitalismuskritik sei bei diesem "alternativen Handel light" nicht mehr beabsichtigt. Schwendemann stützt ihre These mit dem Verweis auf eine Studie des "Deutschen Kaffee Verbands", in welcher der faire Kaffee für kleinere und mittlere Unternehmen als profitable Marktnische bezeichnet wird. Im Marktsegment des alternativen Kaffeehandels seien "höhere Gewinnspannen als bei konventionell importierem Kaffee zu erwarten" (ebenda: Fussnote 2). Schwendemann unterscheidet diesen neuen "ethischen" Markt klar vom klassischen alternativen Handel. Letzterer hat sich der Siegelinitiative "Transfair" nicht angeschlossen, gründete die Handelsorganisation "Mitka" und vermarktet alternativen Kaffee bewusst nicht in Supermärkten.

2.5.3. Heisst fairer Handel auch faire "Entwicklung"?

Nur kurz skizzieren möchte ich einige Gedanken zum Themenkreis "Entwicklung". Eine gerechte Entlöhnung der Arbeit wird im Artikel 23 der Menschenrechts-Charta gefordert. Im fairen Handel wird dies trotz aller oben genannten Schwierigkeiten zumindest angestrebt. Im Gegensatz zu blosser Hilfe von aussen oder zu von aussen an die "Unterentwickelten" herangetragenen Projekte unterstützt der faire Handel die Arbeit der Kleinbauern. Ob dieser alternative Handel bessere Erfolge erzielt als die klassische Entwicklungshilfe, ist schwierig abzuschätzen. Einige kritische Punkte wie das Labelling wurden schon erwähnt. Ein weiteres Stichwort ist die Exportorientierung der ProduzentInnen, welche eine Minderschätzung des Anbaus zum Eigenkonsum, eine stärkere Monetarisierung der indigenen Gesellschaften und schlussendlich eine Verschlechterung der Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln zur Folge haben kann. Diese und andere mögliche negative Auswirkungen des fairen Handels sind meines Wissens jedoch selten.
Ein wichtiger Aspekt des fairen Handels ist die Wertschätzung der Arbeit. Arbeit hat im Werte- und Normensystem der Bauern eine zentrale Bedeutung. Wird diese gerecht entlöhnt, kann das im richtigen Umfeld eine Emanzipation von der alles beherrschenden Marktlogik fördern. Die kreative Neuschöpfung von Werten, die Autonomisierungsbestrebungen und das neue ethnische Selbstbewusstsein können meines Erachtens durch die Bezahlung eines gerechten Preises für die Marktproduktion der Bauernfamilien gestärkt werden. Denn die Frage ist nicht, wie die "guten Indianer" vor der "bösen Welt des Marktes" beschützt und in einem "paradiesischen Naturzustand" bewahrt werden können, sondern wie die indigenen Völker eigenständige, autonome Formen auch im Bereich der Ökonomie kreieren können.
Mit dem Versagen der Globalisierung der Eigentumsgesellschaft, das ein Versagen der ökonomischen Form sozialer Interaktion ist, begann eine Rückbesinnung auf die traditionellen, nicht-ökonomischen Formen sozialer Interaktion. Die nicht homogenisierbaren kulturspezifischen Bedürfnisse werden neu definiert, die "Marginalisierten" marginalisieren ihrerseits die ökononomischen Beziehungen, wie dies G. Esteva überspitzt formuliert: "The time has come to confine the economy to ist proper place: a marginal one" (Sachs 1995: 22). Eine neue, emanzipatorisch verstandene ethnische Identität geht einher mit "neuen Formen der sozialen und produktiven Organisation" (Leff 1993: 78). Es stellt sich die Aufgabe, diese andere, qualitative Entwicklung, die Werte dieser "alternativen produktiven Rationalität" zu theoretisieren und "die kulturellen und ökologischen Prozesse als Fundament des produktiven Prozesses" zu begreifen (ebenda: 65).
Das Konzept einer "Entwicklung" in diesem autonomen Sinne, jenseits von Strukturanpassungen und BSP-Statistiken, fordert auch ein radikales Umdenken der Solidaritätsbewegung, also auch der FairTrade-Organisationen. Dazu Esteva in seinem Artikel "Hilfe und Entwicklung stoppen! Eine Antwort auf den Hunger":
Die "Solidaritätsbewegung" ist zweifellos eine Avantgarde in der industriellen Gesellschaft und besitzt ein grosses Potential für Veränderungen. Sie war jedoch unfähig, aus ihrem ökonomischen Umfeld auszubrechen und sich vom ökonomischen Virus zu befreien, mit dem sie alles infiziert, was sie berührt. Immer mehr Menschen innerhalb der Bewegung versuchen, die zerstörerische Illusion von Entwicklung oder das pervertierte Trugbild des Technologietransfers abzulegen. Sie versuchen aktiv, dem ethnozentrischen Wesenszug des "Missionierens" zu entsagen, um die Tradition der Freiwilligkeit vollständig wiederzugewinnen und aufzuwerten. Aber die "Solidaritätsbewegung reist mit Taschen voller Geld um die Welt." (Esteva 1995: 85).
Ziel der Solidaritätsbewegung und des fairen Handels sollte demzufolge nicht möglichst grosse Projekte, möglichst grosse Marktanteile der fairen Produktion sein, sondern der Gedanke und die Tat der Solidarität müssen in den Vordergrund rücken. In den Worten von Esteva:
"Keine Projekte oder Programme sind zu finanzieren, keine Ideologien zu fördern, keine Ziele zu erreichen, keine Kontrolle aufrechtzuerhalten, keine Verwaltung zum Laufen zu bringen. (...) [sondern:] Die radikale Auflösung der eigentlichen Grundlagen des wirtschaftlichen Modus, das radikale Blockieren des Aufblühens unbezähmbarer Bürokratien und das Vereiteln der Expertendiktatur, die radikale Erschliessung neuer Daseinsformen, die radikale Änderung herkömmlicher Politik durch einen vollkommen anderen politischen Stil" (Ebenda: 88).
Diesen radikalen Begriff von Solidarität und Wandel der Beziehungen fordert auch die zapatistische Bewegung ein, indem sie kein fertiges Konzept, keine Ideologie vorgibt und die mexikanische und internationale Zivilgesellschaft auffordert, an einem Dialog über eine neue zukünftige Gesellschaft teilzunehmen. Die EZLN will eine neue, einschliessende Art der Politik kreieren und kämpft für eine Welt in der alle Welten Platz haben. Die Basis der EZLN, welche sich in Kooperativen des fairen Handels organisiert, gewinnt Erfahrungen im gemeinsamen Auftreten gegen aussen in einer legalen Struktur und erfährt eine Aufwertung ihrer Arbeit in monetärer und moralischer Form.



3. Schlußwort

In dieser Arbeit konnten einige Chancen und Risiken des fairen Handels ansatzweise beleuchtet werden. Zu einer Vertiefung der Problematik wäre ein Feldaufenthalt bei einer Kooperative sicher unablässig. "Weisse Flecken" der Arbeit sind beispielsweise die Kreditvergabe an die Kooperativen und an deren Mitglieder, die nur angedeutete Konkurrenzsituation zwischen den Kooperativen oder mögliche Solidarsysteme zwischen den einzelnen Bauernfamilien. Bekommt ein Bauer, der in einer abgelegenen Gemeinde wohnt und den Transport des geernteten Kaffees teuer bezahlen muss, gleich viel für seinen Kaffee wie der Glückliche, der an der Strasse zur Sammelstelle wohnt? Werden die traditionell stark benachteiligen Frauen beim Todesfall des Ehemannes durch Verwandte oder andere Kooperativenmitglieder bei der Feldarbeit und beim Verkauf des Kaffees unterstützt? Hat der bessere Abnahmepreis der Kooperativen überhaupt einen nennenswerten Einfluss auf die ökonomische Situation der Mitgliedsfamilien, kann doch nur ein Bruchteil der Ernte den Qualitätsansprüchen genügen? Wie werden Investitionen in Trockenplätze etc. finanziert?
Weitergehende Fragestellungen zur Marktsituation und zum Wandel der Philosophie des fairen Handels wären etwa: Ist der faire Handel mit seiner aufklärerischen Haltung eine kurzfristige Zeiterscheinung, gerät er im Zuge des Neoliberalismus zusehends ins Abseits oder ist gerade das konträre, die Suche nach einer Identifikation des Konsumenten mit dem Produzenten der Fall? Soll der faire Handel eine zuweilen belächelte Nische bleiben oder wird exemplarisch ein Überdenken unserer ökonomischen und ökonomisierten Beziehungen gefördert?
Diese und viele weitere Fragen stellen sich mir nach der Niederschrift dieser Arbeit. Ich hoffe, im Zusammenhang mit der Solidaritätsarbeit und mit dem Vertrieb des Kaffees von Mut Vitz Antworten zu finden, die wiederum neue, tiefergehende Fragen aufwerfen werden.



4. Bibliographie

Bartra, Armando u. a. 1995: La hora del café. Dos siglos de cafeticultura en México a muchas voces. México: Ojarasca No.46.
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Durán, Marta 1999: Acteal. Chiapas ... Weihnachten in der Hölle. Bremen: Atlantik.
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Weiterführende Literatur zum Thema:

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Kanzleiter, Boris u. Pesara, Dirk 1997: Die Rebellion der Habenichtse. Der Kampf für Land und Freiheit gegen deutsche Kaffeebarone in Chiapas.Berlin: Edition ID-Archiv.
Kanzleiter, Boris 1997: Kaffeewirtschaft und Campesino-Bewegung in Chiapas. Neoliberale Reformen, internationale Preiskrise und indigenen kleinbäuerliche Rebellion. In: Schriek, Ellen u. a. (Hg.): Das andere Mexiko. Indigene Völker von Chiapas bis Chihuahua. Giessen: Focus.
Leyva Solano, Xochitl u. Ascencio Franco, Gabriel 1996: Lacandonia al filo del agua. México: Fondo de Cultura Economica.
Ocampo Guzmán, Adolfo 1999: La economía chiapaneca ante el tratado de libre comercio. San Cristóbal d. L. C.: CIACH.
Villafuerte Solís, Daniel u.a. 1999: La tierra en Chiapas. Viejos problemas nuevos. México: Plaza y Valdés.