Vom Indigenismus zur indigenen Autonomie in Mexiko


Im Anschluß an die zapatistische Consulta im März 1999 hat die Gruppe "Direkte Solidarität mit Chiapas" eine Broschüre herausgegeben, in der die in der Consulta aufgeworfene Frage nach der Beziehung zwischen den indigenen Völkern und dem Staat thematisiert wird. Ein kurzer historischer Abriß über die Geschichte des Indigenismus und der heutige Begriff der indigenen Autonomie sollen die Beziehung zwischen der indigenen Bevölkerung und dem Staat erläutern.


Der mexikanische Indigenismus

Unter Indigenismus versteht man in erster Linie jene Theorien und Praktiken der Ethnologie oder Anthropologie Mexikos, die bis in die 70er Jahre im Interesse der offiziellen Politik die Indigenen Mexikos zu "zivilisieren" (in Anführungszeichen!) versuchten. Erst ab den 70er Jahren entwickelten sich unabhängige, bedeutende Richtungen in der Anthropologie Mexikos, die sich deutlich von den staatspolitischen Zielen distanzierten. Die heutigen Autonomiebestrebungen der Indigenen wurden und werden von einigen Vertretern dieser neuen Richtungen unterstützt.
Im folgenden soll ein grober Überblick über die Geschichte des Indigenismus und der ab den 70er Jahren entstandenen Strömungen gegeben werden.

Die Wurzeln des Indigenismus gehen in die Zeit der Unabhängigkeitserklärung Mexikos von 1810 zurück. Die europäische Denkungsart hatte, nicht zuletzt wegen der Jahrhunderte währenden spanischen Kolonialherrschaft, auch in Mexiko das Denken geprägt. Eine nationale mexikanische Kultur und Identität sollte geschaffen werden, die Mexicanidad. Die als rückständig eingestufte indigene Kultur sollte bis auf ganz wenige, für die Schaffung der nationalen Identität nützlichen Elemente verschwinden bzw. vom Stadium der Wildheit in jenes der Zivilisation geführt werden. Nicht nur im kulturellen, sondern auch im ökonomischen Kontext wurden die Indigenen als Hindernis betrachtet, denn Kommunalland und Subsistenzwirtschaft hatten in einer nach westlichem Vorbild zu organisierenden Wirtschaft keinen Platz. Die Indigenen wurden gezwungen ihr Land zu parzellieren und als Privatbesitz zu deklarieren, was für die meisten verheerende Folgen hatte. Die Parzellierungen fanden oftmals ohne Berücksichtigung der Bodenqualität statt, viele Familien konnten ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten, waren gezwungen das Land billig zu verkaufen und zu migrieren. Unterdessen wurde ausländischen Investoren Tür und Tor geöffnet. Dies erfüllte gleich zwei Aufgaben: Zum einen förderte es die Wirtschaft, zum anderen trieb es die Vermischung der Rassen voran - ein erklärtes Ziel des 1884 an die Macht gekommenen Diktators Porfirio Diaz.

1910 brach der Befreiungskampf unter der Führung von Emiliano Zapata und Pancho Villa aus und stürzte die Diktatur von Diaz. Breite Teile der ländlichen Bevölkerung und somit auch Indigene hatten sich diesem Kampf angeschlossen. 1919 jedoch geriet Emiliano Zapata in einen Hinterhalt und wurde ermordet.

Geändert hatte sich für die verarmten Bauern und Indigenen nicht viel. Wenig Land von meist schlechter Qualität wurde z.B. den Indigenen in Form von Komunalland zurückgegeben. Die rücksichtslose Industrialisierung ging weiter. Erst recht jetzt, nach dem Befreiungskampf, vermochten die Nordamerikaner ihren Einfluß in Mexiko zu verstärken.
So auch in der indigenistischen Anthropologie, die sich ab den 20er Jahren zu etablieren begann. Postuliert wurde nun der nordamerikanische Kulturrelativismus. Im Gegensatz zu den bis dahin geltenden Praktiken und Theorien, lehnte man eine Hierarchisierung der Kulturen ab und betonte, daß es keine "schlechteren" oder "besseren" Kulturen gebe, sondern nur verschiedene. Erstmals anerkannte man, daß es regionale Unterschiede zwischen den verschiedenen indigenen Kulturen gibt. Das Ziel, nämlich die Konstruktion einer nationalen einheitlichen mexikanischen Gesellschaft nach westlichem Vorbild, wurde aber nicht in Frage gestellt. Die Indigenen sollten nun offiziell in die Gesellschaft integriert werden. Inoffiziell aber ging es weiterhin darum, den Nichtzivilisierten die Zivilisation zu bringen. Anthropologen wurden ins Feld geschickt, um die indigenen Kulturen zu erforschen und soziokulturelle Entwicklungsprogramme einzuleiten, der Zweck dieser Forschungen reduzierte sich aber auf ethnographische Darstellungen und auf das Unterstreichen kultureller Differenzen gegenüber der nationalen Gesellschaft. Vordergründig postulierte man also die Gleichwertigkeit aller Kulturen, praktisch aber ging es nur darum aufzuzeigen, wie schlecht indigene Kulturen mit der nationalen Gesellschaft zu vereinbaren waren und wie sehr sich eine Umerziehung der Indigenen aufdrängte.
1948 wurde das "Instituto Nacional Indigenista", das INI, gegründet und dem Sekretariat des Präsidenten untergeordnet. Diese Institution hatte die Aufgabe die Bürokratie mit in der angewandten Anthropologie ausgebildeten Technokraten zu versorgen und diese autoritäre Assimilationspolitik zu legitimieren.

Am 2. Oktober 1968 wurden in Mexiko City hunderte von Studenten erschossen, die sich im Rahmen der mexikanischen Studenten-Bewegung zu einer Demonstration versammelt hatten. Die blutige Niederschlagung dieser Studentenrevolte blieb nicht ohne Folgen und führte zu einem Bruch zwischen den Intellektuellen und dem politischen Etablissement. Die Identität von Staat und Nation erschien nicht mehr als selbstverständlich, das Ziel, eine einheitliche mexikanische Gesellschaft zu erreichen, wurde angezweifelt.
Die Staatspartei PRI, die sich als Repräsentantin der revolutionären Inhalte von 1910 verstanden hatte und seit Ende des Befreiungskampfes an der Macht war, hatte schon seit längerer Zeit Legitimationsprobleme. Die seit Jahrzehnten auf rücksichtslose Industrialisierung ausgelegte Entwicklungsplanung und das korrupte Wirtschafts- und Politsystem vermochten nicht mehr länger darüber hinweg zu täuschen, daß die revolutionären Ideen schon längst fallen gelassen worden waren. Der Staat und seine Politiker wurden erstmals öffentlich und breit kritisiert. Auch zwischen dem in die staatliche Politik eingebetteten Indigenismus und der Anthropologie begann ein Bruch. Viele Anthropologen - die meisten von ihnen hatten in der 68er Bewegung teilgenommen - suchten nach neuen Ansätzen und Theorien, die explizit dem staatlichen Integrationsprogramm entgegengesetzt waren. Die neuen anthropologischen Strömungen waren jetzt unabhängig, viele Vertreter kamen aus marxistischen Schulen. Sie kritisierten den Staat und das INI, in dem sie aufzeigten, daß die autoritären Integrationsbemühungen der Regierung für die indigenen Gruppen nur deren Vernichtung vorangetrieben hatten.
Auch die sogenannten Förderungsprogramme hatten stets nur auf dem Papier ihre Gültigkeit gehabt. In Wahrheit hatte der Staat aus den landesinternen sozioökonomischen Mißständen und der Unterdrückung indigener Gruppen großen Profit geschlagen. Eine echte Integration der indigenen Bevölkerungsteile und ihrer Kulturen war nie im Interesse des Staates.
Das INI blieb trotzdem weiter bestehen und existiert noch heute. Ihre Politik verfolgt diese Institution nach wie vor, aber in etwas moderierter Form - einige Ideen und Vorschläge, die nach den Ereignissen von 1968 entstanden sind, wurden ins Programm aufgenommen. Trotzdem bleibt es eine staatliche Instanz.
Viele Anthropologen versuchen heute die Indianischen Bewegungen zu unterstützen, z.B. als Asesores, d.h. Berater. Diese indigenen Bewegungen entstanden zum Teil schon in den 40er Jahren auch als Antwort auf die Indigenen Praktiken. Sie fordern unter anderem ein Recht auf Selbstbestimmung, Anerkennung und ökonomische Hilfsprogramme. Besonders die indigene Autonomie ist heute zu einem zentralen Thema geworden.


Indigene Autonomie

Mit der Forderung nach indigener Autonomie kehren sich die neuen indigenen Bewegungen ab von den Positionen des Indigenismus. Spätestens 1992 im Zusammenhang mit den 500-Jahr-Gedenken an die Landung von Christoph Kolumbus begann die Idee der Selbstbestimmung konkrete Züge anzunehmen.
Die Vorstellung einer Autonomie sieht je nach örtlichen Begebenheiten sehr verschieden aus. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, daß sie möglichst alle Bereiche des Lebens umfassen soll, als da sind:

- Politische Selbstbestimmung, das heißt beispielsweise, die Gemeindeversammlung bestimmt einen Gemeinderat - unabhängig von jeglicher Parteipolitik.

- Kulturelle Eigenständigkeit, in dem Sinne, daß die Entscheidungsfreiheit besteht, traditionelle Elemente und Elemente der westlichen Kultur auszuwählen und so ein neue, eigenständige Kulturform und Lebensart zu entwickeln.

- Wirtschaftlich gesehen zielt die Autonomie nicht auf einen Rückzug vom Markt, sondern vor allem auf die selbstbestimmte Teilnahme und eine eigenständige Art der Ressourcennutzung ab.

- Juristisch ist Autonomie so zu verstehen, daß die indigenen Gemeinschaften ihre interne Gesetzgebung und Regelung von Gesetzesverstößen haben. Dabei unterscheiden sich die indigenen "Strafen" meist grundsätzlich von unserem Rechtsbewußtsein: Nicht unbedingt eine Geld- oder Gefängnisstrafe sühnt einen Verstoß, sondern die Wiedergutmachung des Schadens.

- Ideologisch wird in der Autonomie eine Chance für eine Anerkennung auf zwei Rechte innerhalb der mexikanischen Gesellschaft gesehen: Das Recht auf Gleichheit - das heißt ein Ende der rassistischen Diskriminierung und die Anerkennung als vollwertige Staatsbürger - und das Recht auf Differenz - das heißt die Anerkennung der indigenen Kulturen als Teil der mexikanischen Realität. Es geht also in keiner Art und Weise um eine Abspaltung vom mexikanischen Bundesstaat. Im Gegenteil - die indigenen Völker wollen Wege und Lösungsansätze für die brennenden Probleme des Landes aufzeigen und mit der Zivilgesellschaft in einen Dialog treten.

Die Forderung nach Autonomie hat ein zentrales Moment: Die Indígenas emanzipieren sich von den rein westlichen wie auch von rein traditionellen, rückwärtsgewandten Idealen und bestimmen ihre Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche Schritt für Schritt wieder selbst. Nur in einer solchen Autonomie sehen die aufständischen Indígenas die Möglichkeit, im Zeitalter des globalen Marktes nicht nur überleben, sondern in Würde leben zu können.
Indigene Autonomie ist nur durchsetzbar, wenn sich die mexikanische Gesellschaft als ganzes und vor allem die mexikanische Politik radikal ändern. Die indigenen Bewegungen wissen das und versuchen deshalb, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren, um diese radikale Reform des Landes zu erreichen. Es handelt sich also nicht um eine ethnische Bewegung, welche die Abgrenzung von den mestizischen und weißen Mexikanern zum Ziel hat, sondern um eine plurikulturelle Bewegung für einen tiefen Wandel der mexikanischen Gesellschaft, für eine Emanzipation von der seit Jahrzehnten das Land beherrschenden Oligarchie.
Dies sehen wir auch in der Aussage der EZLN bestätigt, die in unserer Broschüre  zitiert wird:

"Die Autonomie der indigenen Völker sieht die EZLN im Kontext eines nationalen, viel breiteren und unterschiedlichen Kampfes, als Teil der Autonomisierung der gesamten Zivilgesellschaft. Die EZLN ist sich völlig im Klaren, daß eine bloße indigene Autonomie nicht das alte Regime schlagen kann - und daß diese indigene Autonomie nur möglich ist, wenn das ganze mexikanische Volk in Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit lebt."

Dieser Kampf ist in den Augen der Zapatistas das nationale Projekt, welches in der ersten Frage der zapatistischen "Consulta" angesprochen wird. Die indigenen Völker sind nicht mehr die Vergessenen, die Ausgeschlossenen, sondern sie wollen beim Wandel der mexikanischen Gesellschaft in Richtung eines basisdemokratischen und plurikulturellen Mexiko ihren prägenden Beitrag leisten.

In den Abkommen von San Andrés, welche zwischen der EZLN und weiteren indigenen Bewegungen Mexikos einerseits und der Regierung andererseits abgeschlossen wurden, ist ein Grundkonsens über den verfassungsrechtlichen Rahmen der indigenen Autonomie erreicht worden. Über die konkrete Ausgestaltung der Autonomie wird jedoch vor allem unter Intellektuellen heftig gestritten. Zentraler Streitpunkt ist die Frage der Größe der autonomen Einheiten. Sollen sich ganze Regionen mit mehreren zehntausend Bewohnern zusammenschließen und eine autonome Verwaltung bilden, wie dies die "regionalistas" fordern, oder wäre dies nur eine neue Form der Bürokratie? Ist das einzelne Dorf die natürliche Größe für die indigene Selbstbestimmung, wie die "comunalistas" meinen, oder droht so die Isolierung und Marginalisierung?
Die Zapatistas haben bisher weder für die regionalistische noch für die kommunalistische Variante Stellung bezogen. Die zapatistische Autonomiebewegung zeigt, daß eine Zwischenposition, die der autonomen Munizipalitäten, momentan konkret umgesetzt wird. In einem "municipio" sind zwischen zwanzig und hundert Dörfer zusammengeschlossen, insgesamt existieren heute 38 autonome Munizipalitäten.

Die "municipios rebeldes zapatistas" standen in den letzten zwei Jahren im Zentrum der Auseinandersetzungen in Chiapas. Immer wieder wurden Versuche der Regierung, ihre "remunicipalisación" durchzuführen - Bildung von Munizipalitäten mit mestizischen Hauptorten und somit mit PRI-Mehrheiten - erfolgreich durch massive Präsenz der zapatistischen Basis verhindert. Iimmer wieder wurden die zapatistischen autonomen Gemeinderäte bedroht und attackiert.
Und immer stärker wird auch die Stimme der autonomen Munizipalitäten. Subcomandante Marcos, der von Januar 97 bis Mai 99 nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten war, äußert sich in den letzten Monaten zwar wieder öfters zu der Situation in Chiapas wie auch zu nationaler und internationaler Politik (beispielsweise zum Krieg im Kosovo).
Doch es erscheinen auch immer mehr "comunicados" der autonomen Bauernräte, welche in den letzten zwei Jahren die Waffe des Wortes zu erobern begannen. Auch und gerade in Zeiten harter Repression gegen die zapatistischen Gemeinden, wie letzten und diesen Frühling, melden sich die Direktbetroffenen ohne Vermittler zu Wort:

Queremos decirle a todo el mundo que nosotros, los indígenas, aquí estamos. A pesar de la militarización total, resistimos.
Ni con sus aviones de guerra podrán destruir el corazón de nuestro pueblo.

"Wir möchten der ganzen Welt sagen, daß wir, die Indigenen, immer noch hier sind. Selbst im Angesicht einer alles umfassenden Militarisierung leisten wir Widerstand. Nicht einmal mit ihren Jagdbombern können sie das Herz unseres Volkes zerstören."