Vom Indigenismus zur indigenen Autonomie in Mexiko
Unter Indigenismus versteht man in erster Linie jene Theorien und Praktiken der Ethnologie oder Anthropologie Mexikos, die bis in die 70er Jahre im Interesse der offiziellen Politik die Indigenen Mexikos zu "zivilisieren" (in Anführungszeichen!) versuchten. Erst ab den 70er Jahren entwickelten sich unabhängige, bedeutende Richtungen in der Anthropologie Mexikos, die sich deutlich von den staatspolitischen Zielen distanzierten. Die heutigen Autonomiebestrebungen der Indigenen wurden und werden von einigen Vertretern dieser neuen Richtungen unterstützt. Die Wurzeln des Indigenismus gehen in die Zeit der Unabhängigkeitserklärung Mexikos von 1810 zurück. Die europäische Denkungsart hatte, nicht zuletzt wegen der Jahrhunderte währenden spanischen Kolonialherrschaft, auch in Mexiko das Denken geprägt. Eine nationale mexikanische Kultur und Identität sollte geschaffen werden, die Mexicanidad. Die als rückständig eingestufte indigene Kultur sollte bis auf ganz wenige, für die Schaffung der nationalen Identität nützlichen Elemente verschwinden bzw. vom Stadium der Wildheit in jenes der Zivilisation geführt werden. Nicht nur im kulturellen, sondern auch im ökonomischen Kontext wurden die Indigenen als Hindernis betrachtet, denn Kommunalland und Subsistenzwirtschaft hatten in einer nach westlichem Vorbild zu organisierenden Wirtschaft keinen Platz. Die Indigenen wurden gezwungen ihr Land zu parzellieren und als Privatbesitz zu deklarieren, was für die meisten verheerende Folgen hatte. Die Parzellierungen fanden oftmals ohne Berücksichtigung der Bodenqualität statt, viele Familien konnten ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten, waren gezwungen das Land billig zu verkaufen und zu migrieren. Unterdessen wurde ausländischen Investoren Tür und Tor geöffnet. Dies erfüllte gleich zwei Aufgaben: Zum einen förderte es die Wirtschaft, zum anderen trieb es die Vermischung der Rassen voran - ein erklärtes Ziel des 1884 an die Macht gekommenen Diktators Porfirio Diaz.
Geändert hatte sich für die verarmten Bauern und Indigenen nicht viel. Wenig Land von meist schlechter Qualität wurde z.B. den Indigenen in Form von Komunalland zurückgegeben. Die rücksichtslose Industrialisierung ging weiter. Erst recht jetzt, nach dem Befreiungskampf, vermochten die Nordamerikaner ihren Einfluß in Mexiko zu verstärken. Am 2. Oktober 1968 wurden in Mexiko City hunderte von Studenten erschossen, die sich im Rahmen der mexikanischen Studenten-Bewegung zu einer Demonstration versammelt hatten. Die blutige Niederschlagung dieser Studentenrevolte blieb nicht ohne Folgen und führte zu einem Bruch zwischen den Intellektuellen und dem politischen Etablissement. Die Identität von Staat und Nation erschien nicht mehr als selbstverständlich, das Ziel, eine einheitliche mexikanische Gesellschaft zu erreichen, wurde angezweifelt.
Mit der Forderung nach indigener Autonomie kehren sich die neuen indigenen Bewegungen ab von den Positionen des Indigenismus. Spätestens 1992 im Zusammenhang mit den 500-Jahr-Gedenken an die Landung von Christoph Kolumbus begann die Idee der Selbstbestimmung konkrete Züge anzunehmen. - Politische Selbstbestimmung, das heißt beispielsweise, die Gemeindeversammlung bestimmt einen Gemeinderat - unabhängig von jeglicher Parteipolitik. - Kulturelle Eigenständigkeit, in dem Sinne, daß die Entscheidungsfreiheit besteht, traditionelle Elemente und Elemente der westlichen Kultur auszuwählen und so ein neue, eigenständige Kulturform und Lebensart zu entwickeln. - Wirtschaftlich gesehen zielt die Autonomie nicht auf einen Rückzug vom Markt, sondern vor allem auf die selbstbestimmte Teilnahme und eine eigenständige Art der Ressourcennutzung ab. - Juristisch ist Autonomie so zu verstehen, daß die indigenen Gemeinschaften ihre interne Gesetzgebung und Regelung von Gesetzesverstößen haben. Dabei unterscheiden sich die indigenen "Strafen" meist grundsätzlich von unserem Rechtsbewußtsein: Nicht unbedingt eine Geld- oder Gefängnisstrafe sühnt einen Verstoß, sondern die Wiedergutmachung des Schadens. - Ideologisch wird in der Autonomie eine Chance für eine Anerkennung auf zwei Rechte innerhalb der mexikanischen Gesellschaft gesehen: Das Recht auf Gleichheit - das heißt ein Ende der rassistischen Diskriminierung und die Anerkennung als vollwertige Staatsbürger - und das Recht auf Differenz - das heißt die Anerkennung der indigenen Kulturen als Teil der mexikanischen Realität. Es geht also in keiner Art und Weise um eine Abspaltung vom mexikanischen Bundesstaat. Im Gegenteil - die indigenen Völker wollen Wege und Lösungsansätze für die brennenden Probleme des Landes aufzeigen und mit der Zivilgesellschaft in einen Dialog treten. Die Forderung nach Autonomie hat ein zentrales Moment: Die Indígenas emanzipieren sich von den rein westlichen wie auch von rein traditionellen, rückwärtsgewandten Idealen und bestimmen ihre Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche Schritt für Schritt wieder selbst. Nur in einer solchen Autonomie sehen die aufständischen Indígenas die Möglichkeit, im Zeitalter des globalen Marktes nicht nur überleben, sondern in Würde leben zu können. "Die Autonomie der indigenen Völker sieht die EZLN im Kontext eines nationalen, viel breiteren und unterschiedlichen Kampfes, als Teil der Autonomisierung der gesamten Zivilgesellschaft. Die EZLN ist sich völlig im Klaren, daß eine bloße indigene Autonomie nicht das alte Regime schlagen kann - und daß diese indigene Autonomie nur möglich ist, wenn das ganze mexikanische Volk in Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit lebt." Dieser Kampf ist in den Augen der Zapatistas das nationale Projekt, welches in der ersten Frage der zapatistischen "Consulta" angesprochen wird. Die indigenen Völker sind nicht mehr die Vergessenen, die Ausgeschlossenen, sondern sie wollen beim Wandel der mexikanischen Gesellschaft in Richtung eines basisdemokratischen und plurikulturellen Mexiko ihren prägenden Beitrag leisten. In den Abkommen von San Andrés, welche zwischen der EZLN und weiteren indigenen Bewegungen Mexikos einerseits und der Regierung andererseits abgeschlossen wurden, ist ein Grundkonsens über den verfassungsrechtlichen Rahmen der indigenen Autonomie erreicht worden. Über die konkrete Ausgestaltung der Autonomie wird jedoch vor allem unter Intellektuellen heftig gestritten. Zentraler Streitpunkt ist die Frage der Größe der autonomen Einheiten. Sollen sich ganze Regionen mit mehreren zehntausend Bewohnern zusammenschließen und eine autonome Verwaltung bilden, wie dies die "regionalistas" fordern, oder wäre dies nur eine neue Form der Bürokratie? Ist das einzelne Dorf die natürliche Größe für die indigene Selbstbestimmung, wie die "comunalistas" meinen, oder droht so die Isolierung und Marginalisierung? Die "municipios rebeldes zapatistas" standen in den letzten zwei Jahren im Zentrum der Auseinandersetzungen in Chiapas. Immer wieder wurden Versuche der Regierung, ihre "remunicipalisación" durchzuführen - Bildung von Munizipalitäten mit mestizischen Hauptorten und somit mit PRI-Mehrheiten - erfolgreich durch massive Präsenz der zapatistischen Basis verhindert. Iimmer wieder wurden die zapatistischen autonomen Gemeinderäte bedroht und attackiert. Queremos decirle a todo el mundo que nosotros, los indígenas, aquí estamos. A pesar de la militarización total, resistimos. "Wir möchten der ganzen Welt sagen, daß wir, die Indigenen, immer noch hier sind. Selbst im Angesicht einer alles umfassenden Militarisierung leisten wir Widerstand. Nicht einmal mit ihren Jagdbombern können sie das Herz unseres Volkes zerstören." |