Ihnen das Land entreißen
Mit Blick auf 2010


Dieser Beitrag wurde auf dem Forum "Geht ihr nicht freiwillig, dann jagen wir euch weg" vorgestellt, das am 28. und 29. März 2009 in Tampico, Tamaulipas, stattfand. Er skizziert einen möglichen Kampfplan mit Blick auf 2010, ein Jahr, das für die Mexikaner/innen große Bedeutung hat. (1810 begann der mexikanische Unabhängigkeitskrieg, 1910 die mexikanische Revolution.)



EINLEITUNG

Compañer@s der Anderen Kampagne, liebe Zuhörer!
Wir haben uns hier versammelt, weil wir ein Interesse daran haben, die Probleme unseres Landes Mexiko zu lösen; weil wir andere Lösungen für das soziale System suchen, das uns aufgezwungen wurde und das, anstatt Lösungen zu bieten, alles nur noch viel schlimmer macht. Nicht einmal die Kapitalisten können mehr leugnen, dass der Kapitalismus ein Desaster ist, das uns viele Produkte beschert hat, aber keine bessere Gesellschaft, keine besseren Menschen; viel Quantität, wenig Qualität und eine äußerst schlechte Verteilung des Reichtums.
Und die linken Parteien verhalten sich wie die rechten oder schlimmer. Denn unser politisches System ist ein System der Rechten, man muss es so sagen; es ist gleich, wie sich die Parteien und die politische Klasse selbst definieren, alle verhalten sich gleich, denn die Form ist für die gegossen, die an die Macht kommen.

Die ganze Politik ist falsch und wird irreführend als "Demokratie" bezeichnet. Denn die Demokratie ist etwas anderes, die wahre Demokratie kann nicht von rechts kommen, sie ist links. Wir sind hier, weil wir uns 2010 vorstellen wollen, mit der Hoffnung, eine andere Art des Politikmachens zu schaffen, eine, die uns vereint und nicht trennt, von unten und links, für eine Regierung, die gehorchend befiehlt. Denn wir fühlen die Notwendigkeit, uns zu organisieren, etwas zu tun, um dieses System des Todes und der Ausbeutung zu verändern, deswegen sind wir hier. Vielleicht aber quälen viele der hier Anwesenden einige Fragen: Müssen wir dabei gegen das Gesetz verstoßen? Gewalt anwenden? Müssen wir etwas riskieren? Wie weit könnte ich bei so etwas mitgehen? Was können wir wirklich tun?

Nun, in diesem Forum wollen wir klarere Ideen entwickeln, was wir bezüglich der Konjunktur 2010 machen könnten. Wir müssen auf nationaler und internationaler Ebene die Situation des Landes analysieren, Erfahrungen überdenken, unsere Stärken und Schwächen, unsere Möglichkeiten und Grenzen analysieren. Mögliche Strategien, Allianzen und Aktionen definieren, das ist unsere Aufgabe. Vielleicht können wir nicht all das in diesem Forum abschließen, aber wir können damit vorankommen, mit etwas müssen wir beginnen.


DAS GEWALT-TABU

Nach dieser kurzen Einleitung möchte ich ein kontroverses Problem ansprechen: das Gewalt-Tabu. Obgleich Gewalt ein substantieller Teil des Menschen und der Natur ist, hat man uns glauben gemacht, dass jegliche Gewalt eine Sünde sei, dass sie gegen Moral und Ethik geht. Gewalt ist dem Volk verboten, wird aber von der Regierung bis in alle Extreme ausgeübt, um uns zu unterjochen, um bestimmte Interessen zu schützen und das Fremde zu bekämpfen. Gewalt wird auch für die von Oben privatisiert, und für die von unten ist sie verboten. Wir Mexikaner dürfen diesem Gebot nicht Folge leisten, sondern müssen von der Gewalt der Vernunft zur Vernunft der Gewalt übergehen.

Denn die von Oben verstehen keine Vernunft, deswegen meiden sie den Dialog und setzen sich mit Gewalt durch, wie auch immer die Argumente liegen. Deswegen sagte auch eine große Persönlichkeit unserer Revolution, Ricardo Flores Magón, dass die Gewalt nicht mit Vernunft zu besiegen ist, sondern Gewalt wird mit Gewalt besiegt. Denn es genügt weder, intelligent zu sein, noch genügt es, im Recht zu sein. Denn wenn Wahrheit und Gerechtigkeit nicht mit Tatsachen durchgesetzt werden, sind sie nur ein Wortspiel. Die einzige Art, wie wir als Volk unsere Situation des Kniefalls vor den Mächtigen verändern können, ist es, auf intelligente Weise zu zeigen, dass wir stärker sind als die von oben. Und dass wir noch ein Recht haben, welches uns verboten wird, nämlich das Recht, ärgerlich zu werden.

Heute blüht der Zorn der Franzosen in ihren Forderungen nach einem besseren Frankreich, in der ersten Welt. Angesichts der Schutzmaßnahmen für die Bänker erhebt sich auch der Zorn der US-Amerikaner dort, in der Kriegsmacht Nummer 1. In Argentinien gehen die Menschen auf die Straße und erzwingen mit den Kochtöpfen in der Hand den Fall mehrerer Präsidenten. In Bolivien erheben sich die Menschen und vertreiben die multinationalen Konzerne. Und in Mexiko, wo die Betrügereien viel weiter reichen als in den USA, wo viel mehr Armut herrscht als in Frankreich, wann werden die Mexikaner aufwachen? Natürlich, wir sind nicht in der gleichen Situation, und auch nicht am gleichen geografischen Ort, und auch diesen Aspekt müssen wir auf diesem Forum analysieren. Aber wenn es keinen Zorn gibt, wenn es keine Entrüstung gibt, wird es keine Revolution geben. Es muss uns egal sein, ob wir als gewalttätig bezeichnet werden. Was auch immer wir gegen dieses System unternehmen, wird ohnehin gewalttätig genannt werden. Und das wird es auch sein. Aber wir müssen mit dem Gewalt-Tabu brechen und endlich begreifen, dass wir keinen friedlichen, rosaroten oder schmerzfreien Wandel erhoffen können, denn wenn wir einen wirklichen Wandel wollen, wird der nicht so geschehen.


DIE ANGST BESIEGEN

Wie zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges und der Revolution gibt es für viele Mexikaner immer weniger Dinge, für die es zu leben oder zu sterben lohnt. Das Leben selbst ist immer wertloser, traurig, schlechter Qualität und voller Angst. Der Wert des Lebens ist so relativ, dass viele menschliche Wesen es manchmal vorziehen zu sterben, oder sich nicht mehr fortzupflanzen, oder sich das Leben zu nehmen. Aber auch in jenen Zeiten fanden die Menschen ein Leben wertvoller, dass dem Kampf für Freiheit gewidmet war, und schätzten mehr den Tod auf beiden Beinen stehend als das Leben auf Knien. Sie merkten, dass das Leben, dass sie bewahren wollten, es nicht wert war, und fanden es wertvoller, ihr Leben für ein wirklich menschliches Leben zu riskieren, sie fanden es würdiger, leidenschaftlicher, und vernünftiger! Und das machte ihnen Mut. Heute, genau wie gestern, sind viele von uns von der Angst gefangen. Wir wagen nicht zu demonstrieren. Wir wagen nicht einmal den kleinsten zivilen Ungehorsam.

Wir haben Angst, die Arbeit zu verlieren, Angst, nicht für unseren alltäglichen Lebensunterhalt aufkommen zu können, unsere Schulden nicht bezahlen zu können, denn wir haben alles auf Kredit gekauft, zu mehr hat es nicht gereicht. Angst davor, was sie sagen werden. Angst davor, unterdrückt, gefoltert, getötet zu werden. Angst davor, eingesperrt zu werden. Angst davor, dass jeden Moment unsere Familie vergewaltigt, verschwunden, verstümmelt, ermordet werden kann. Ergebnis dessen ist, dass die Angst das ganze Land gelähmt hat, ja, hier verlieren wir schon, denn ihr sollt wissen, dass es Andere nicht gewagt haben, zu diesem Forum zu kommen. Denn die Angst verliert man auch, indem man sich in den Kampf stürzt. Und wenn man zum Schlimmsten bereit ist, dann werden, so glaube ich, viele Hindernisse besiegt.

Vaterland oder Tod, sagten die Kubaner, und besiegten den unbesiegbaren Batista, machten sich unabhängig. Deswegen kann heute wie gestern, in Mexiko wie in Kuba, die beste Waffe des Volkes der Sieg über die Angst sein. Und außerdem stinkt die Angst auch, und der Tyrann erstarkt dadurch. Aber wir müssen ihnen das Land mit einer schnellen Aktion entreißen. Wir können nicht einen langen Weg wie die FARC wählen, das Ziehen und Zerren, denn damit werden wir dem Land nur noch mehr Schaden zufügen. Und die Menschen müssen sich in Aktionen auf verschiedenen Ebenen einbringen können, denn aus diversen Gründen können nicht alle das gleiche.

ZIVILER UNGEHORSAM

Ich möchte euch dazu einladen, dass wir damit beginnen, dem Tyrannen nicht mehr zu gehorchen, der etablierten Ordnung der Ungerechtigkeiten nicht zu gehorchen. Ich würde euch gern dazu einladen, von jetzt an landesweit ein Szenarium des zivilen Ungehorsams zu erschaffen. Den Gesetzen, die sie uns von oben aufgezwungen haben, nicht zu gehorchen. Denn so ist dieses politische System, das sie "Demokratie" nennen, konzipiert, damit sich das Volk nicht einmischt, damit nicht das geschieht, was das Volk will; denn das Volk wünscht sich weder Ungerechtigkeiten noch Armut, noch dass es Privilegien gibt; sondern einen wahren Frieden.

Und was ist all das, was sie uns aufgezwungen haben? Es ist die Sklaverei des Arbeiters vor einem Herrn. Die Sklaverei der Kredite, der kleinen Rechnungen. Die Sklaverei der Arbeitslosigkeit. Es sind die Steuern von allem, was gehandelt wird, denn sie haben schon alles verkauft, was dem Land Einnahmen gebracht hat, und jetzt bleiben ihnen nur unsere löchrigen Taschen, um sich ihre ungeheuren Gehälter zu zahlen, um die nationale Wirtschaft voranzubringen. Für die große soziale Veränderung, die wir hier vorhaben, ist das, was wir vorschlagen, nicht viel.

Größtenteils besteht der zivile Ungehorsam daraus, etwas nicht tun: Wähle nicht. Zahle ihnen nichts. Zahle deine Schulden in den Kaufhäusern nicht, zahle in den Banken nicht, zahle keine Steuern, zahle keine Strafen; wenn du ein Auto hast, zahle keine Steuern dafür. Wir sollten keine Skrupel haben, dass wir uns ethisch nicht korrekt verhalten, denn sie haben die Ungerechtigkeit und den legalisierten Raub zur Ethik erhoben. Sie haben uns Mexikanern nämlich schon viel geraubt. Aber wir werden sie dafür noch zur Kasse bitten, und sie werden uns dafür bezahlen. Natürlich bringt der zivile Ungehorsam Risiken mit sich, vor allem, wenn nur wenige mitmachen. Aber es ist sinnvoll, dem zivilen Ungehorsam Vertrauen zu schenken. Dieser Ungehorsam ist es, was die Mächtigen wirklich fürchten. Deswegen bemühen sie sich, uns zuvorzukommen und den Ungehorsam nicht zuzulassen, denn das würde einen Machtverlust bedeuten . es ist bereits abzusehen, dass sie für 2010 von oben viele Reformen und Unterstützungen planen, um den Zorn der Bevölkerung zu besänftigen. Geben wir ihnen dazu keine Möglichkeit.

ULTIMATUM 2010

Aber auch der zivile Ungehorsam reicht nicht. Wie können wir dieses System stürzen? Wo ist der Pfeiler? Wo müssen wir rütteln, damit dieser ganze ökonomische und politische Apparat, den sie erschaffen haben, in sich zusammenfällt? Damit nichts mehr übrig bleibt. Wo sind die Pfosten, die tragenden Säulen? . Ist es das Bankensystem? Das Eigentum der Produktionsmittel? Die ideologische Kontrolle, die Steuerung der Information, Televisa, TV Azteca, das Radio? Oder die Gesetze? Die Regierungsinstitutionen? Das Abgeordnetenhaus? Der Regierungssitz? Der Oberste Ungerechtigkeits-Hof? Die Mexikanische Bank? .

All das, was in dem Dokument steht, das diesem Treffen zugrunde liegt, ist notwendig, aber es gibt noch etwas, was da nicht steht, nämlich wo genau die Grundlage dieses Systems ist: es sind nämlich die Menschen, die es erhalten, sowohl die politische als auch die kapitalistische Klasse, die die Macht lenken. Denn das kapitalistische System wird nicht vom Zufall gelenkt und ist auch nicht vom Himmel gefallen: Es sind konkrete Personen, mit Vor- und Zunamen, die es entworfen haben, es nähren und erhalten. Die Säulen des Kapitalismus sind nicht seine Institutionen, sondern seine Menschen, seine Kapitalisten.

Tatsächlich gibt es in Mexiko viel zu erneuern, aber vorher müssen wir beseitigen, was uns stört, und unsere Kräfte dabei auf oben rechts konzentrieren: auf den Sturz der Regierung, dieser politischen Klasse, die an der Macht ist und nur ihrem eigenen Nutzen dient; dort ist der Kopf der Schlange, und bei den großen nationalen und multinationalen Kapitalisten, die hier eingefallen sind, um Arbeit und Reichtümer mitzunehmen. Sie müssen beseitigt werden, denn sie selbst werden sich nicht beseitigen und ihre Privilegien nicht freiwillig aufgeben.

Lasst uns die Menschen aufrufen, sich zu erheben und den Staub von den Knien abzuklopfen. Die Macht in die Hände des Volkes zu nehmen. Lasst uns denen da oben sagen, dass sie ihre Koffer packen können, denn 2010 werden wir ihnen das Land entreißen, das sie von uns entführt haben. Aus diesem Forum soll ein Ultimatum für all jene hervorgehen. Sie sollen wissen, dass wir hinter ihnen her sein werden, dass wir sie verfolgen werden, denn das Volk hat auch seine eigene Liste, und jetzt sind sie an der Reihe, im Gefängnis zu sitzen, sie müssen eigentlich dort sein. Nun, als Teil des Programms für 2010 muss es eine "Hexenjagd" geben. Wir können uns nicht mit einer einzigen Einnahme der öffentlichen Räume begnügen, das reicht nicht, wir müssen immer vorwärts gehen, sie verfolgen, bis sie gehen oder bis die Rechtssprechung des Volkes sie einholt.

Die Liste ist fertig, erstellt von der Geschichte selbst, und jetzt muss sie nur noch auf Papier geschrieben und verteilt werden, damit sie erfüllt wird. Aber dieser Kampf gegen die Regierung erfordert, dass wir uns unweigerlich mit der Hauptstadt dieser Republik in Verbindung setzen müssen. Es müssen landesweit gut abgestimmte Aktionen erdacht werden, denn lokale isolierte Aktionen werden wenig nützen. Ich möchte den Compañeros, die uns von dort besuchen, vorschlagen, dass wir eine Möglichkeit finden, dieses Forum in Mexiko-Stadt zu wiederholen, so bald wie möglich, und die hier erzielten Ergebnisse mit anderen Organisationen und Kollektiven diskutieren, damit noch weitere Vorschläge für 2010 gehört werden können. Wie schon der kubanische Poet und Befreiungskämpfer José Marti sagte: Rechte werden weder erbeten noch erbettelt, sie werden genommen, sie werden entrissen.

Und auch die zapatistischen Compañeros sagen, dass wir nicht um Erlaubnis dafür bitten müssen, frei zu sein. Das ist alles, Compañer@s, danke.

Juan Castro Soto
La Otra Huasteca-Totonacapan, Veracruz
Übersetzung: KaRa