Stationen der EZLN-Geschichte


Die Rebellion der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) im Südosten Mexikos war vor zehn Jahren für die meisten eine völlige Überraschung. Seitdem haben die Zapatisten Geschichte geschrieben, so unterschiedlich diese auch bewertet werden mag. Eine Analyse dieser Zeit muß an anderer Stelle geschehen, in diesem Text sollen nur die wesentlichen Stationen nachgezeichnet werden, die den Weg der EZLN markieren.


In den siebziger Jahren scheitert ein erster Versuch chiapasfremder revolutionärer Kader, in diesem mexikanischen Bundesstaat eine Guerillafront aufzubauen. Anfang der achtziger Jahre entwickelt sich dann aus der Zusammenarbeit eines kleinen Kerns der guevaristischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) und einigen Mitgliedern regionaler indigener Organisationen eine neue Gruppierung, die sich am 17. November 1983 den Namen Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gibt. Zu ihr stößt im Folgejahr eine Person, deren strategisches Denken und deren Wortgewalt die weitere Entwicklung dieser Guerilla entscheidend mitbestimmen wird: Rafael Guillén, bekannt als Subcomandante Marcos. Ganz allmählich verankert sich die EZLN mehr und mehr in den indigenen Gemeinden. Zuerst im Lakandonischen Urwald und dann im Hochland, das die Stadt San Cristóbal de las Casas umgibt. Die Guerilla wächst von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt und von den staatlichen Geheimdiensten falsch eingeschätzt.
Zufällige Zusammenstöße mit der Bundesarmee im Frühjahr 1993 beschleunigen den Entschluß der EZLN, mit der seit fast zehn Jahren geduldig geplanten Erhebung nicht mehr lange zu warten. Der Aufstand wird in Abstimmung mit der zivilen Basis in den sympathisierenden Gemeinden auf den 1. Januar 1994 gelegt. Ein Datum, an dem Präsident Carlos Salinas das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) feiern will.
Der Überraschungscoup der Zapatisten gelingt fast vollständig. Am 1. Januar 1994 besetzt die EZLN mit mehreren tausend Kämpfern verschiedene Landkreiszentren in Chiapas, darunter San Cristóbal. Der perplexen nationalen und internationalen Öffentlichkeit verkündet sie in der Ersten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald ihre unmittelbaren Ziele: Rücktritt des Präsidenten, Krieg gegen die Bundesarmee und Vormarsch bis Mexiko-Stadt.


Konvent im Urwald
Die Szenarien aber, mit denen die Zapatisten gerechnet haben, laufen nicht ab: Weder kommt es landesweit zu einer Erhebung gegen die Herrschaft des PRI-Regimes noch zur bedingungslosen Repression durch die Armee, nachdem einmal klar ist, daß die EZLN keine ernsthafte militärische Bedrohung darstellt. Imageüberlegungen und die über die nationalen Grenzen hinausgehenden Sympathiekundgebungen für die EZLN sind für den sich im letzten Amtsjahr befindenden Präsidenten entscheidend. Die Ereignisse überstürzen sich: Der Innenminister, zuvor noch Gouverneur von Chiapas, muß ebenso seinen Hut nehmen wie wenige Tage später sein Nachfolger im Gouverneursamt. Seinen Außenminister ernennt Salinas am 10. Januar zum Friedensbeauftragten der Regierung, kurz darauf erläßt er einen einseitigen Waffenstillstand. Die Konfliktparteien erkennen San Cristóbals Bischof Samuel Ruiz García als Vermittler an. Schon Ende Februar 1994 beginnen in der Kathedrale von San Cristóbal Friedensgespräche, bei denen ein 34-Punkte-Programm der Zapatisten die Verhandlungsbasis darstellt. Eine Einigung scheitert daran, daß die Regierung die Forderungen von nationaler Tragweite – wie Rücktritt des amtierenden Präsidenten und demokratische Neuwahlen – nicht erfüllen will.

In dieser Schwebesituation bleiben die Zapatisten mit zahlreichen Kommuniqués und dem Aufruf zu einem Nationalen Demokratischen Konvent (CND) in der Zweiten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald in der politischen Offensive. Mit Duldung der Regierung kommen in einem von der EZLN errichteten "Aguascaliente" (Treffpunkt und Zapatisten und ihre Sympathisanten) nahe dem zapatistischen Hauptquartier im Urwald vom 6. bis 9. August 1994 mehr als 6 000 Menschen zum Konvent. Es ist der erste Versuch der Zapatisten, die breite Sympathie in einer landesweiten, zivilen Massenbewegung zu organisieren.
Der Aufstand hat das ganze Land aufgerüttelt, dennoch gewinnt zwei Wochen später ein weiteres Mal die PRI, die Revolutionäre Institutionelle Partei, die Präsidentschaftswahlen. Der von der EZLN ausdrücklich favorisierte Cuauhtémoc Cárdenas von der linksmoderaten PRD landet offiziell nur auf dem dritten Platz.
Der ab Dezember 1994 amtierende Präsident Ernesto Zedillo schlägt von Anfang an eine aggressive und provokative Politik gegen die Zapatisten ein. Seine groß aufgemachte Enttarnung von Subcomandante Marcos als Rafael Guillén und die umgehend folgende militärische Offensive vom 10. bis 14. Februar 1995 mit dem Ziel der Verhaftung der laut Regierung ausschließlich nichtindigenen EZLN-Führung sind jedoch ein grandioser Fehlschlag. Die EZLN weicht durch schnellen Rückzug aus den Dörfern einer direkten Konfrontation aus, Großdemonstrationen im ganzen Land zwingen Zedillo zur Kehrtwende. Im März wecken das bis heute geltende "Gesetz für den Dialog, die Versöhnung und den würdigen Frieden in Chiapas" wieder Erwartungen bezüglich einer friedlichen Konfliktlösung. Die Nationale Vermittlungskommission (Conai) unter Bischof Ruiz sowie die parteienübergreifend zusammengesetzte Parlamentskommission zu Chiapas (die Cocopa) spielen in den Folgemonaten eine Protagonistenrolle.

Verschiedene Kontakte zwischen Regierung und EZLN im Jahresverlauf führen im Oktober 1995 zu Verhandlungen über das Thema Indígenarechte und -kultur in dem Hochlanddorf San Andrés. Parallel versucht die EZLN permanent, die "Zivilgesellschaft" zu mobilisieren. Ende August nehmen 1,3 Millionen Menschen an der landesweit auf zapatistische Initiative hin veranstalteten Konvent-Befragung über die Zukunft der EZLN teil. Eine knappe Mehrheit spricht sich für die politische Unabhängigkeit der EZLN von anderen Bewegungen aus. Der zu Beginn des Jahres 1995 in der Dritten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald gemachte Vorschlag, den Konvent zu erweitern und unter Führung von Cuauhtémoc Cárdenas in die Bewegung der Nationalen Befreiung (MLN) umzuwandeln, läuft jedoch zunehmend ins Leere. Cárdenas selbst verweigert sich dem Ansinnen. In der Vierten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald vom 1. Januar 1996 nimmt die EZLN einen erneuten Anlauf und kündigt das zivile Zapatistische Bündnis der Nationalen Befreiung (FZLN) an, dessen formeller Gründungskongreß erst 19 Monate später stattfinden wird. Das FZLN markiert auch das Ende der Hoffnungen, im politischen Kampf auf Teile der PRD-Führung setzen zu können. Das Bündnis besteht bis heute, eine landesweite Massenorganisation ist daraus zu keinem Zeitpunkt geworden.


Gegen den Neoliberalismus
Die am 16. Februar 1996 zwischen Regierung und EZLN geschlossenen Abkommen von San Andrés sehen eine Stärkung der indigenen Rechte und Kultur vor, die durch eine Reihe von Gesetzes- und Verfassungsänderungen untermauert werden sollen. Seit Beginn des Aufstandes ist dies das erste konkrete Verhandlungsergebnis. Doch die Regierung macht wenig Anstalten zur konkreten Umsetzung der Abkommen. Der EZLN gelingt es, die militärische Isolierung und den Kleinkrieg der Regierung politisch zu konterkarieren. Mehrere tausend Menschen aus aller Welt folgen dem zapatistischen Aufruf zum Internationalen Kongreß gegen den Neoliberalismus Ende Juli/Anfang August 1996 in den fünf Treffpunkten, den Aguascalientes. Kurz darauf suspendieren die Zapatisten die Gespräche in San Andrés, weil sie keinen politischen Willen bei der Regierung sehen.

Nachdem Ernesto Zedillo den Ende November 1996 von der Cocopa ausgearbeiteten Vorschlag zur Verfassungsreform über die indigenen Rechte, der die Zustimmung der EZLN findet, in wesentlichen Punkten zurückweist, ist jeglicher Dialog mit dieser Regierung endgültig tot. Drei Tage vor den Wahlen am 6. Juli 1997, in denen die PRI erstmals in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer verlieren wird, ruft die EZLN ihre Basis zur Enthaltung auf. Ausführlich legt sie ihre Sichtweise dar, die traditionelle Politik sei nur eine Angelegenheit der Eliten.
Die zapatistische Antwort auf die Wahlen ist der Marsch der 1 111. So viele Menschen aus den zapatistischen Gemeinden starten am 8. September 1997 mit Bussen von San Cristóbal in Richtung Mexiko-Stadt und werden vier Tage später von einer Menschenmenge in der Hauptstadt begrüßt. Die Teilnahme an den Tagungen des FZLN und des Nationalen Indígena-Kongresses (CNI) unterstreichen den Anspruch der EZLN, auf nationaler Ebene präsent zu sein.


Das Massaker von Acteal
Die Regierung agiert auf ihre Weise. Der in den Vormonaten intensivierte Krieg "niedriger Intensität", den PRI, Sicherheitskräfte und ihnen nahestehende paramilitärische Gruppen gegen die zapatistischen Gemeinden oder mit ihnen sympathisierende Bevölkerungsteile führen, kulminiert am 22. Dezember 1997 im Massaker von Acteal: In der chiapanekischen Hochlandgemeinde Chenalhó werden 45 Indígenas, mehrheitlich Frauen und Kinder, praktisch vor den Augen einer nicht eingreifenden Polizeieinheit in sechsstündigem Gemetzel durch Paramilitärs ermordet. Die EZLN macht Präsident Zedillo und seinen Innenminister Chuayffet direkt für die Morde verantwortlich.
In der gesamten Welt gibt es Solidaritätskundgebungen mit den Hinterbliebenen der Opfer und den Zapatisten, wobei die Massendemonstration am 12. Januar 1998 in Mexiko-Stadt herausragt. Nach der massiven Kritik treten Chuayffet sowie der Gouverneur von Chiapas wenige Tage nach Acteal zurück. Doch letztendlich sitzt die Regierung die Kritik aus und setzt mit verstärkter Militärpräsenz in Chiapas Provokationen und Zermürbungstaktik bis zum Ende ihrer Amtszeit fort.

Die Cocopa ist in der zweiten Hälfte der Zedillo-Periode nur ein lebender Kadaver. Bischof Samuel Ruiz gibt im Juni 1998 auf und tritt als Vorsitzender der Vermittlungskommission Conai zurück, die sich daraufhin auflöst und ausdrücklich den fehlenden Regierungswillen erwähnt, der ihre Arbeit sinnlos mache. Die EZLN verlegt sich auf ein Wechselspiel aus monatelangem Schweigen und einzelnen großen Mobilisierungsaktionen. So melden sich die Zapatisten im Juli 1998 plötzlich mit einer detaillierten Analyse der politischen Situation im Land sowie der Fünften Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald. In letzterer wird zu einer landesweiten Befragung über die Rechte der indigenen Völker und die Beendigung des Auslöschungskrieges aufgerufen. Die EZLN erklärt die "Zivilgesellschaft" als ihren einzigen Gesprächspartner.
Die kampagneartige Vorbereitung der Befragung mobilisiert große Teile der Gesellschaft über Monate hinweg. Im November 1998 treffen sich dabei in San Cristóbal 32 zapatistische Delegierte und mehrere tausend Vertreter verschiedenster Gruppen der "Zivilgesellschaft". Eine Woche vor dem Befragungsstichtag 21. März 1999 verteilen sich 5 000 Mitglieder der zapatistischen Basis über ganz Mexiko, Kraftakt und Schulung zugleich. An der Befragung selbst nehmen nach zapatistischen Angaben 2,8 Millionen Menschen teil. Zweifellos ist es die zahlenmäßig größte Unterstützung, die die EZLN bis dahin vorzuweisen hat, aber auch sie führt nicht zu einer dauerhaft starken zivilen Organisationsstruktur.

Im gesamten Wahljahr 2000 verhält sich die EZLN wieder auffallend still. Nur wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 2. Juli 2000 äußert sie sich dahingehend, daß ein möglicher Oppositionssieg noch keine Demokratie in Mexiko bedeute. Sie wiederholt ihre Position, die Wahltermine seien nicht die Termine der Zapatisten. Anders als 1994, als die zapatistische Sympathie eindeutig Cuauhtémoc Cárdenas galt, beschränken sie sich diesmal darauf, die Wahlen nicht zu boykottieren und fordern die Bevölkerung auf, darin eine Möglichkeit des Kampfes zu sehen.
Die Abwahl der PRI nach 71 Jahren an der Macht – auch in Chiapas – scheint neue Bewegung in den Konflikt zu bringen. Anfang Dezember 2000 erklärt die EZLN-Führung die prinzipielle Bereitschaft zu einem Dialog mit der neuen Regierung des konservativen Präsidenten Vicente Fox, stellt dafür aber drei Minimalbedingungen: Freilassung aller zapatistischen Häftlinge, Abzug von sieben Militärposten in Chiapas und die Verabschiedung der ursprünglichen Cocopa-Initiative. Schließlich kündigt die EZLN einen Marsch von 24 Mitgliedern ihrer Führung einschließlich Subcomandante Marcos in die Hauptstadt an, um vor dem Parlament selbst die Verfassungsreform einzufordern.

Alles scheint in den ersten Monaten 2001 auf eine Verständigung zwischen Zapatisten und Regierung hinauszulaufen. Fox bringt das Cocopa-Gesetz ins Parlament, läßt die Soldaten aus den sieben Stützpunkten abziehen, fast alle zapatistischen Häftlinge kommen frei, und nach anfänglichem Zögern erklärt sich der Präsident zum Unterstützer des Marsches. Dieser beginnt am 24. Februar 2001 und kommt bei seinem Weg durch insgesamt zwölf Bundesstaaten teilweise einem Triumphzug gleich. Auf der Route von Revolutionsheld Emiliano Zapata legt die angewachsene Karawane die letzten Kilometer in die Hauptstadt zurück, am 11. März 2001 wird die EZLN auf dem Platz vor dem Nationalpalast von mehr als 200 000 Personen empfangen. Als die Zapatisten nach tagelangem Tauziehen tatsächlich im mexikanischen Kongreß sprechen dürfen und die Indígena-Comandante Esther eine im Fernsehen live übertragene, bewegende Rede hält, nimmt die EZLN am 28. März ein Stück Euphorie mit zurück nach Chiapas.


Ende des Schweigens
Alles vergebens: Am 25. April gibt es das nahezu einstimmige Votum des Senats, in dem die wesentlichen Punkte des Cocopa-Entwurfes über Nacht verwässert sind: Autonomie und Selbstbestimmung, indigene Völker als Subjekte des öffentlichen Rechtes, Anerkennung von Territorien, Entscheidung über Naturschätze und Wahl der eigenen Autoritäten, all dies wird im Gegensatz zur ursprünglichen Version verweigert. Präsident Fox entscheidet sich plötzlich für das "Vergessen" des Konfliktes, spricht vom "heiligen Frieden" in Chiapas und unterzeichnet am 14. August 2001 die Verfassungsreformen. Die EZLN erteilt allen offiziellen Kontakten eine Absage und zieht fast anderthalb Jahre wieder das Schweigen der öffentlichen Meinungsäußerung vor. Über den Sinn dieser Haltung wird in der "Zivilgesellschaft" kontrovers diskutiert.
Die Aussichten für die Lösung des Konfliktes gestalten sich noch düsterer, nachdem sich das Oberste Gericht am 6. September 2002 aus formalen Gründen für inkompetent erklärt, über die mehr als 300 Verfassungsbeschwerden indigener Gemeinden und einiger Länderregierungen gegen das verwässerte Cocopa-Gesetz zu entscheiden.

Das Erscheinen der Zeitschrift Rebeldía zum 19. Gründungstag der EZLN im November 2002 beendet vorläufig das zapatistische Schweigen. Rebeldía, seitdem regelmäßig publiziert, kann durchaus als Sprachrohr der Zapatisten gelten. Am 1. Januar 2003 widerlegt die Präsenz von über 20 000 vermummten, aber unbewaffneten Zapatisten in San Cristóbal die Regierungsthese vom schleichenden Zerfall ihrer Autorität in den chiapanekischen Dorfgemeinden. In den Folgemonaten erscheinen Kommuniqués von Marcos (nach den Geschichtstafeln der Mayas "Stelen" genannt), in denen der Widerstand und die politische Situation in den Bundesstaaten analysiert werden, durch die die EZLN-Führung auf ihrem Marsch gezogen war. Mit der Neuorganisation ihrer als "autonom" erklärten Landkreise und der Gründung von fünf regionalen "Räten der Guten Regierung" Anfang August 2003 betonen die Zapatisten ihren Anspruch auf Selbstverwaltung und die Umsetzung der Abkommen von San Andrés in ihrem Einflußgebiet. Die Regierung vermeidet es bisher weitgehend, sich zu dieser Herausforderung zu äußern.
Seit dem 10. November läuft unter loser organisatorischer Leitung der Zeitschrift Rebeldía die EZLN-Kampagne "20 und 10. Das Feuer und das Wort". Mit zahlreichen kleineren und größeren Veranstaltungen erinnern Zapatisten und Unterstützergruppen landesweit an die Jahrestage von Gründung und Aufstand. Ein erneuter Prüfstein, inwieweit der zapatistische Funke in der mexikanischen Gesellschaft noch überspringt.

Gerold Schmidt