Die Zapatisten:
Wer sie sind und was sie wollen


"Es ist bei uns üblich, zu Beginn des Neuen Jahres die Pläne unserer Zapatistischen Armee zur Nationalen Befreiung zu verkünden. So wie 1993, als wir uns auf den Krieg vorbereiteten, 1992, als wir beschlossen, diesen Krieg zu führen, 1984, als wir unser erstes Jahr hinter uns hatten und 1983, als die Hoffnung erwachte, bleibt der Plan der Zapatistas derselbe: Die Welt zu verändern, sie zu verbessern, gerechter, freier, demokratischer, d.h. humaner zu machen."
EZLN, 17. 11. 1994

"Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssen. Wir sind das Produkt des Zusammentreffens indigener Weisheit und indigenen Widerstands mit dem rebellischen Geist und der Tapferkeit der Generation der Würde, deren Blut Licht in die dunklen Tage der Sechziger und Achtziger Jahre brachte."
EZLN, 25.08.1995

"Wir haben es nicht vorgeschlagen. Das einzige, was wir zu tun vorschlugen, war die Welt zu verändern; alles andere war Improvisation. Unsere simple Vorstellung von der Welt und von der Revolution nahm argen Schaden durch die Konfrontation mit den indigenen Realitäten in Chiapas. Im Ergebnis dieser Zusammenstöße entstand etwas Neues (was nicht notwendigerweise "Gutes" bedeuten muß), das was heute "Neo-Zapatismus" genannt wird."
Subcomandante Marcos, 22. 10. 94   


Die drei hier ausgewählten Zitate sollen belegen, daß wir es sowohl mit historischer Kontinuität als auch mit Transformation zu tun haben. Die Beteuerung, daß "der Plan der Zapatistas "derselbe bleibt wie zuvor" und die Erkenntnis, daß "unsere simple Vorstellung von der Welt und von der Revolution argen Schaden nahm", ermöglichen es, den Stoff, der aus Kontinuität und Veränderung gewoben wurde, zu erkennen. Seine Fäden sind "Weisheit, Widerstand, Rebellion und Mut."


Zuerst: Das klassische Guerilla-Konzept

Diese Geschichte beginnt mit der Etablierung des ersten Lagers des Guerilla-Kerns im Lakandonischen Urwald am 17. 11. 1983 und reicht bis zum Aufstand der Gemeinden, der am 1. Januar 1994 offenbar wurde. Es ist eine fortlaufende Geschichte der Mobilisierung, Organisierung und Rebellion der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Mexiko.

Es wäre zweifellos dumm abzustreiten, daß der ursprüngliche Guerilla-Kern in seinen frühen Tagen eine stark leninistisch-maoistische Orientierung hatte. Er verstand sich als "revolutionäre Vorhut" im Sinne der Entfachung und Führung eines "langfristigen Befreiungskrieges". Marcos selbst beschrieb, daß sie (damals) ihre Aufgabe darin sahen, einen bewaffneten Kern von Guerilla-Kämpfern zu schaffen, und zwar analog zu jener Taktik wie sie einst von Ernesto Che Guevara angewendet wurde.
Diese Mischung aus Leninismus und Guevarismus überrascht nicht. In unterschiedlichen Varianten war dies das Charakteristikum nahezu aller radikalen Linken in Lateinamerika in der Zeit zwischen der kubanischen Revolution und dem Triumph der Sandinistas in Nicaragua. In regionalen Varianten war sie anzutreffen beim "Ejército Revolucionario del Pueblo" (Argentinien), dem "Movimiento de la Izquierda Revolucionaria" (Chile), den "Fuerzas de Liberación Nacional" (Venezuela), dem "Ejército de Liberación Nacional" (Kolumbien) und den "MLN-Tupamaros" (Uruguay). Und natürlich war diese Mischung in den Strömungen und Organisationen anzutreffen, aus denen sich der "Frente Sandinista de Liberación Nacional" (Nicaragua), der "Frente Farabundo Martí" in El Salvador und die "Unión Nacional Revolucionaria Guatemalteca" zusammensetzten.
Trotz der Unterschiede, die zwischen diesen Gruppen zweifellos existierten, teilten sie alle eine implizite - und oftmals explizite - Annahme: Jede betrachtete sich als eine politisch-militärische Organisation, die die Volksmassen bei der Ergreifung der Macht und der Errichtung des "Sozialismus" anführen mußte. Von Arbeitern, Bauern, Studenten und anderen Sektoren der Bevölkerung wurde erwartet, daß über den Beitritt zu den Organisationen der Avantgarde folgen würden. Alle diese Gruppen waren sich in bestimmten theoretisch-politischen Prinzipien einig: dem unmittelbar sozialistischen Charakter der Revolution, der Notwendigkeit einer bewaffneten Vorhut und dem bewaffneten Kampf als zentrale und evtl. einzige Strategie, was in der Praxis zur Verachtung einer politischen Konfrontation führte. Diese Übereinstimmung erwuchs offensichtlich nicht nur aus der Ähnlichkeit der Analyse der lateinamerikanischen Realitäten, sondern aus der Anschauung über die Weltrevolution seit Oktober 1917.
Diese Vorgaben haben die Entstehung der EZLN stark beeinflußt. Darauf wird im zweiten obigen Zitat hingewiesen. Marcos sprach davon, als er auf die Erfahrungen der ursprünglichen Gruppe anspielte, und auch in einem Interview im Februar 1994, in dem er nicht ohne Ironie darauf verwies, daß sich in den Reihen der Aufständischen "die immense Zahl von insgesamt drei Ladinos" befinde. Der primäre Faktor jedoch, der Zapatismus so bemerkenswert machte, war, daß der Aufstand vom 1. 1. 1994 und die seitdem entwickelte Reihe politischer Initiativen zeigen, daß praktisch kaum Beziehung zu jenen Vorgeschichten besteht.
Jeder Versuch, die EZLN als einfache Fortsetzung der Guerilla-Bewegungen der 60er und 70er Jahre zu verstehen wäre nicht nur sinnlos, sondern steril, fehlorientiert oder sogar reaktionär. Der mexikanische Staat hatte diese Haltung, als der Aufstand begann und er Haftbefehle gegen die "nicht-indigenen", "nicht-chiapanekischen" Anführer der Bewegung ausstellte. Und diese ist auch die Betrachtungsweise von Intellektuellen, die dem Neoliberalismus nahestehen (wie z.B. Octavio Paz und Hector Aguilar Camin) sowie von bestimmten Möchtegern-Ex-Radikalen, die ihre Vergangenheit bereuen.
Im Gegensatz dazu erfuhr und erfährt die ursprüngliche Gruppe, die '83 versuchte, einen Guerilla-Kern zu implantieren, seit jener Zeit eine grundlegende Metamorphose: "Unsere simple Vorstellung nahm argen Schaden, und es entstand etwas Neues."  


Dann: Der Kontakt mit den Indígenas

Dieses "Neue" ist die Umdefinierung, das Überdenken nicht nur des Projekts, sondern auch der aktuellen Praxis der Revolution. Der Kontakt des ursprünglichen Guerilla-Kerns mit den ländlichen indigenen Gemeinden führte zu grundlegenden Veränderungen in seinem Konzept. Seine Mitglieder assimilierten nicht nur die lange Tradition regionaler Aufstände, sondern auch die gemeindeorientierte demokratische Kultur und die bewußte Schaffung kommunaler Alternativen. Von diesem Zeitpunkt an begannen die EZLN ihre Avantgarde-Kriterien abzustreifen und das zu werden, was wir heute als "Volk unter Waffen" sehen. Demzufolge war das Problem für den Staat weniger der "harte Kern" der EZLN, sondern die Tatsache, daß die Gemeinden selbst entschieden hatten, den Aufstand zu beginnen (die mexikanische Regierung hat dies bis heute nicht begriffen).
Es ist aber gleichermaßen wichtig zu unterstreichen, daß der Zapatista-Aufstand nicht einfach die jüngste Phase eines Zyklus indigener und Bauernaufstände einer Region darstellt. Als erstes trägt er nicht den Mantel einer religiösen oder mythischen Perspektive (obwohl der Aufstand durchaus für solche Elemente Attraktivität besitzt).

Wichtiger noch, dieser Aufstand unterscheidet sich von früheren, die danach trachteten vergangene Zustände wiederherzustellen, indem die EZLN ein klares Programm für eine zukunftsorientierte Transformation entwickelt hat, gekennzeichnet durch eine Radikalisierung der Demokratie. Dies ist die tiefere Bedeutung des Dreifach-Slogans "Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit".
Folglich sind wir mit einer doppelten Metamorphose konfrontiert: der der ursprünglichen Guerrilla-Gruppe und der der Gemeinden. Die erste brach mit ihren kommunistischen Konzepten und eignete sich das indigene kulturelle Konzept vom "gehorchend Befehlen" an.

Die Gemeinden ihrerseits durchbrachen die jahrhundertealte Isolation und begannen das Funktionieren des Staates unter neoliberalem Vorzeichen zu verstehen und sich selbst als Teil der Welt zu begreifen.
All dies führt zu der Notwendigkeit, sämtliche Annahmen der revolutionären Tradition zu überprüfen, und das nicht nur in Lateinamerika. Viele wertvolle Hypothesen können bereits aus den Erfahrungen der EZLN abgeleitet werden. Vielleicht haben jene Kommentatoren recht, die von der "ersten Revolution des 21. Jahrhunderts" gesprochen haben, auch wenn einige ihrer Bedingungen spezifisch mexikanisch sind.
Aber diese Hypothesen (oder Lektionen, wie sie manche bezeichnen würden) sind am besten zu verstehen, wenn man versucht, einige der zahlreichen Fragen, die der Zapatismus aufgeworfen hat, zu beantworten. In erster Linie: Wie entstand und entwickelte sich die EZLN? Was steckt hinter solchen Aussagen wie "gehorchend Befehlen", "für alle alles, für uns nichts", "eine Revolution, die die Revolution möglich macht"? Auf welche Art von Nationalismus beziehen sie sich und in welcher Relation steht dies zu ihren Forderungen nach Autonomie?
In welcher Weise sind die Zapatista-Gemeinden von der Neuordnung der Welt der Arbeit betroffen? Und schließlich: Welchen theoretisch-politischen Wert könnte diese Erfahrung für jene in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten haben, die ebenfalls eine Welt fordern, die gerechter, freier, demokratischer, mit einem Wort humaner ist?
Dieser Beitrag versucht, ein paar Antworten auf die gestellten Fragen zu geben. Dies soll geschehen, indem wir bestimmte thematische Aspekte betrachten und dazu so unmittelbar wie möglich die Worte und Aktionen jener Gemeinden beiziehen, die einen Teil der EZLN darstellen, weil wir der Überzeugung sind, daß sie mit der "Wahrheit im Herzen das wahre Wort" sprechen.


Gehorchend Befehlen

"Gehorchend Befehlen" ist wahrscheinlich das zentrale Konzept des zapatistischen Projekts. Das Konzept entstammt den indigenen ländlichen Gemeinden und bezieht sich auf eine Praxis, die in der westlichen politischen Tradition mit Begriffen wie direkte Demokratie und imperatives Mandat (der sofortigen Abberufbarkeit der Entscheidungsträger) umschrieben und mit den Erfahrungen der Pariser Kommune oder den Arbeiter- und Soldatenräten verglichen werden können.
Die Praxis des "gehorchend Befehlens" zeigt den zentralen Unterschied zwischen den Zapatistas und allen früheren revolutionären Erfahrungen in Lateinamerika: Die Zapatistas sind weder eine "Guerilla-Armee" noch eine "bewaffnete Partei" mit einer besonderen sozialen Basis, sondern statt dessen die soziale Basis im Aufstand selbst - die Gemeinden.
Das steht im Widerspruch sowohl zu reformistischen wie leninistischen Praktiken. Zum zweiten unterliegen sowohl Kriegsführung als auch Politik den Beschlüssen der Gemeinden. Die "Armeeführung", also die Mitglieder des CCRI (Geheimes Indigenes Revolutionäres Komitee), behalten ihre Mandate, solange sie glaubwürdig und wirksam das Mandat, das ihnen von der Gemeinde übertragen wurde, wahrnehmen. Aus der Perspektive der westlichen politischen Tradition hat die indigene Bauerngemeinde eine Metamorphose durchgemacht, indem sie eine Polis [altgriech. Stadtstaat, A.d.Ü.] bildeten, die sich nicht nur durch Land, Sprache und Kultur definiert, sondern eine politische Gemeinde mit beratenden, legislativen und exekutiven Funktionen darstellt.
In einem Brief vom 28. Mai '94 beschreibt Marcos ein Beispiel für viele derartiger Entscheidungen durch die Gemeinden und zitiert das Protokoll einer Vereinbarung: "Die Männer, Frauen und Kinder trafen sich in der Gemeindeschule, um ihre Herzen zu befragen und herauszufinden, ob die Zeit gekommen war, den Befreiungskrieg zu beginnen, und sie teilten sich in die drei Gruppen - Frauen, Kinder und Männer - um dies zu diskutieren. Dann kamen wir zurück in die Schule und die Ansicht der Mehrheit war, daß der Krieg beginnen sollte ... Diese Vereinbarung wurde von 12 Männern, 23 Frauen und 8 Kindern gutgeheißen. Jene, die unterschreiben konnten, taten dies, und jene, die es nicht konnten, setzten ihren Fingerabdruck darunter."


Reden und Zuhören

Zur grundlegenden Natur der EZLN gehört auch die Tatsache, daß sie "Genug!" sagten und sich erhoben, um gehört zu werden und um ein Netzwerk des "Redens und Zuhörens" zwischen Einzelpersonen und Organisationen zu weben, die an einer radikalen politischen Transformation interessiert waren. Dies erklärt auch das Fehlen der "Partei" als ein von den Gemeinden getrennter Organismus und zeigt, warum die EZLN kein getrennter "autonomer" Apparat ist. Denn es sind die zapatistischen Gemeinden, die sich als Gemeinden unter Waffen zum Ausdruck bringen.
Obwohl dies einige Fragen beantwortet, wirft es auch neue auf. Zum Beispiel: Woher kommt das Prinzip des "gehorchend Befehlens", das zugleich sozial, kulturell, ethnisch und politisch ist? Könnte ein solches Prinzip Schule machen oder sind wir mit einer Erfahrung konfrontiert, die eine Besonderheit "rückständiger" indigener bäuerlicher Gemeinden darstellt? Wie könnte all dies eventuell in Beziehung stehen zu wahrscheinlichen Formen der Neuordnung in der Welt der Arbeit? Orientiert sich dieses Konzept an der Vergangenheit oder an der Zukunft? Wie hat es sich entwickelt?
In Bezug auf die erste Frage beinhaltet dieses Prinzip eine soziokulturelle Dynamik, die in klaren ethisch-politischen Werten zum Ausdruck kommt. Folglich legen die Zapatistas in ihren Erklärungen großen Wert auf Erfahrungen (und Konzepte), die der Kapitalismus und seine postmodernen Apologeten für immer begraben zu haben glaubten: "Wahrhaftigkeit", "Würde", "Aufrichtigkeit" und "Integrität". Das ist die Grundsubstanz des enormen Beitrages, der dank den Zapatistas von den traditionellen Agrargemeinden kommt.
Aber wie bereits erwähnt, es handelt sich um Gemeinden, die sich in "Polis" umgewandelt haben, und auf der Grundlage dieser Erfahrung schlägt die EZLN seine Generalisierung vor durch die Förderung horizontaler sozialer Solidarität (dies scheint die passendste Übersetzung des "für alle alles, für uns nichts" zu sein). Dies muß durch eine Strategie geschehen, die zu einer "Revolution führt, die die Revolution ermöglicht", in der Terminologie Gramscis eine Revolution, die - als erster Schritt - darin besteht, daß die Trennung von "politischer Gesellschaft" und "Zivilgesellschaft" dadurch beseitigt wird, daß sich erstere in letzterer auflöst.


Todo para todos

Aus all diesem resultierte ein Charakteristikum, das zunächst alle überraschte: daß die EZLN darauf beharrte, nicht die Macht ergreifen zu wollen. Statt dessen trachten sie danach, zu einer umfassenden Bewegung beizutragen, die auf der Grundlage eines dichten und komplexen Netzwerkes horizontaler Formen der Solidarität versucht, der Gesellschaft die Macht zurückzugeben. Am 20. 1. 1994 erklärten die Zapatistas: "Wir sind der Ansicht, daß revolutionäre Veränderung in Mexiko nicht das Ergebnis von nur einer Aktionsebene sein wird. Das heißt es wird nicht, im strengen Sinne, entweder eine bewaffnete oder eine friedliche Revolution sein. Es wird in erster Linie eine Revolution sein, die aus den Kämpfen an vielen verschiedenen Fronten hervorgeht, mit unterschiedlichen Maßen an Zielstrebigkeit und Beteiligung. Und das Ergebnis wird nicht der Sieg einer Partei, einer Organisation oder einer Allianz siegreicher Organisationen mit ihren eigenen spezifischen sozialen Vorstellungen sein, sondern vielmehr ein demokratischer Freiraum für die Lösung der Widersprüche unterschiedlicher politischen Vorstellungen. Dieser demokratische Freiraum wird auf drei historisch voneinander untrennbaren Prämissen basieren: Demokratie, um herauszufinden, welche soziale Vorstellung dominiert; die Freiheit, sich zu der einen oder der anderen Vorstellung zu bekennen; und Gerechtigkeit, ein Prinzip, das von all diesen Vorstellungen respektiert werden muß."
Der gesamte politische Prozeß der EZLN ist als ein geduldiger und hartnäckiger Prozeß von Vorschlägen und Konsultationen über die Art der Bewegung in diese Richtung zu verstehen: Vom "Nationalen Demokratischen Konvent" (August 1994) zur "Nationalen Volksbefragung" (August 1995) und zum Aufruf zu einem "Nationalen Forum für Unabhängigen Dialog" (29. 9. 1995).
Die Zapatistas sind der Ansicht, daß ihre Erfahrung eine realistische Alternative darstellt, die verallgemeinert werden kann. Es kann argumentiert werden, daß die Bedingungen, welche dies ermöglichen würden, davon abhängig sind, welche Verbindung zwischen der zapatistischen Erfahrung und dem Prozeß der Neuordnung der Welt der Arbeit bestehen, bzw. inwiefern erstere einen Teil des letzteren bildet.
Es ist offensichtlich, daß die letzten Punkte nicht isoliert diskutiert werden können. Zu ihrer Erforschung ist es notwendig, die zapatistische Bewegung nicht nur in ihrem nationalen, sondern im weltweiten Kontext zu verstehen, d.h. im Kontext der Globalisierung, der die Neuordnung der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital im weltweitem Maßstab darstellt. Um jedoch die eventuelle Universalität des Zapatismus zu verstehen, müssen wir unser Verständnis seiner besonderen Charakteristika vertiefen. D.h. wir müssen zurückkehren zu den chiapanekischen Gemeinden in Rebellion, zu den Aspekten, die diese Doppelerscheinung aus politischer Gemeinde und Gemeinde unter Waffen, über die weiter oben gesprochen wurde, begründen und ausformen.


Die Revolution der Gemeinden

Wir sind also konfrontiert mit einem gewaltigen Prozeß der Neupositionierung, der Neudefinition und des Überdenken des ursprünglichen Projekts von Avantgarde- oder reformistischen Organisationen - von "der Partei", "den Guerilla-Kräften" bzw. "dem Wahlkampf" hin zur Gemeinde; von der Konfrontation zwischen Militärkräften hin zum politischen Konfrontationskurs einer sozialen Schicht, die sich an einem lang andauernden Aufstand beteiligt; von der "Eroberung der Macht" hin zur Überwindung der Trennung zwischen "politischer und Zivilgesellschaft; von der "Diktatur des Proletariats" hin zu "Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit", verstanden als die wahre "Revolution, die die Revolution ermöglicht".
Zapatismus kann nicht anders verstanden werden als die Erfahrung von Volksmacht. Die EZLN ist nicht nur das "Volk unter Waffen", sondern auch eine Armee, die sich dem Mandat des Volkes (bzw. der Gemeinde) unterwirft. Nur so können Sachverhalte erklärt werden wie die Einstellung gegen die Avantgarde, das Fehlen jedwelcher "Partei"-Bildung, die schnelle Rückbesinnung auf den politischen Kampf (ohne dabei Waffen oder Aufstand aufzugeben), das Bestehen auf Verbindung zur (bisweilen sehr breit definierten) "Zivilgesellschaft" usw.
Im Verlauf von 10 Jahren durchliefen sowohl die ursprüngliche Gruppe, die sich im Lakandonischen Urwald einnistete, als auch die Gemeinden der Region einen fortwährenden Prozeß gegenseitigen Lernens, sowohl in Bezug auf das Streben nach als auch der Durchführung der Revolution. Auf der Grundlage dieser Lektionen, des Evaluierens und Re-Evaluierens veränderten sie ihre Vorhaben; es entstand "etwas Neues", etwas von dem der Zapatismus Träger und Verbreiter ist. Dieser Prozeß muß von den sogenannten "Negativerfahrungen" der mittelamerikanischen Revolutionen, dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR beeinflußt worden sein.
Aber das Überdenken des Programms, der Praxis und der Ethik der Revolution war nicht einfach ein Prozeß "intellektuellen" Lernens, sondern es hatte vielmehr eine kulturelle Basis: Der Gemeinden-Charakter des Aufstandes. Das führt uns zu weiteren Fragen. Die wichtigste davon: Auf welche "Gemeinde" wird hier Bezug genommen? Dies birgt den Schlüssel zum Verständnis dafür wie und warum die Zapatistas keine isolierte Randerscheinung sind, sondern ein untrennbarer Bestandteil der globalen Neuordnung der Arbeit. Dieser Prozeß der Neuordnung erfolgt durch die Zerstörung der traditionellen Formen von "Klassen" und "Schichten", begleitet von der Entstehung neuer Formen.
Die Frage "Auf welche "Gemeinde wird hier Bezug genommen?" veranlaßt uns, eine Zahl von Faktoren zu untersuchen, die dergestalt miteinander verwoben sind, daß letztendlich eine neue Qualität entsteht, die mehr darstellt als die Summe der Einzelfaktoren.
Eine nähere Betrachtung der Fasern dieses Gespinsts zeigt, daß sie zu einem immensen Fluß gehören, dessen Quelle in den (über)lebenden Traditionen der indigenen Agrargemeinden zu finden ist. Der zentrale Punkt dieses Erbes sind die uralten Praktiken der Gemeinde-Demokratie, des Dialogs und der Diskussion gemeinsamer Probleme (von den Indígenas beschrieben als "deinem wahren Wort zu gestatten, meinem wahren Wort zu begegnen") und dem Prinzip des gehorchenden Befehlens, dessen Strukturen als das "öffentliche Leben" bezeichnet werden könnten.
Genährt von dieser Praxis entwickelte sich EZLN so wie sie sich heute darstellt. Aber an dieser Stelle gilt es besonders vorsichtig zu sein, da es sich, im Gegensatz zu dem was dogmatische Liberale und Marxisten glauben mögen, nicht um einfache "überkommene" und schon gar nicht um "archaische" Merkmale handelt, sondern vielmehr um einen fundamentalen Mechanismus, mit dem "neue" Gemeinden geschaffen wurden - "neu" sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch in der Art und Weise wie sie funktionieren.
Diese Elemente nur als einfache Fortsetzung des Bestehenden oder als "Überkommenes" zu deuten, hätte zur Folge, nur eine einzelne Faser des Gespinstes zu verstehen. Diese simple Sicht wäre bestenfalls unvollkommen und schlimmstenfalls gefährlich. Diese Praktiken und "traditionellen" Gemeinwesen waren generell einer tiefgreifenden Transformation ausgesetzt, sowohl aufgrund der historischen Entwicklung der Gemeinden als auch durch die bewußte Aktion jener Gemeindemitglieder, die EZLN-Kämpfer wurden.
Der Platz reicht an dieser Stelle nicht einmal für eine kurze Beschreibung der Geschichte der Anstrengungen dieser Gemeinden zur Schaffung von Bedingungen, die für ihre soziale Reproduktion erforderlich sind (Kampf um Land, Produktion, Vermarktung, Gesundheitsfürsorge), einer Geschichte, die gekennzeichnet ist von ständigen, harten, oftmals blutigen Konflikten mit den Caciques (so etwas wie Dorfvorsteher) und dem Staat.
Jene, die behaupten, daß Agrargemeinden ein Beispiel für Stagnation und Rückständigkeit darstellen, irren sich sehr. Selbst unter Bedingungen extremer Armut sind die zapatistischen Gemeinden von hoher Dynamik gekennzeichnet und besitzen auf besondere Weise fortschrittliche kulturelle und politische Charakteristika.
Mehr noch, die Geschichte zeigt, daß wir es nicht im geringsten mit stagnierenden, ein Routineleben führenden Gemeinden zu tun haben, sondern im Gegenteil mit einer bewußten, organisierten kollektiven Anstrengung zum Aufbau "neuer" Gemeinden, die erst vor drei bis vier Jahrzehnten entstanden sind. Es trifft zu, daß diese Gemeinden vertrieben und an den Rand gedrängt waren, aber sie waren in der Lage, sich den Herausforderungen und Härten der Erschließung neuen Territoriums für die landwirtschaftliche Nutzung zu stellen. Die Kultur des Schlagens von Schneisen, des Schaffens von Wegen, des Rodens von Wald, um Felder zu bebauen, verwandelte sich später paradoxerweise in das Schlagen politisch-sozialer Breschen.
Da dies in einem Umfeld permanenter Konflikte mit den Caciques und dem Staat stattfand, kann angenommen werden, daß während dieses gesamten Prozesses die Gemeindebande gestärkt und kollektive Initiativen (einschließlich Formen des Kampfes gegen den Staat zur Selbstverteidigung und zur Durchsetzung von Gemeindeforderungen) hoch bewertet wurden.
Hier wiederum befinden sich die Wurzeln des "für alle alles". Diese Aspekte der "bewußten Arbeit des Bauens" bezeichnen etwas, was in den traditionellen Gemeinden nicht automatisch vorhanden ist - eine Reihe von Transformationen, Bewertungen und Neuorientierungen. Diskussion von Projekten, Ausführung und Bewertung des Erreichten und des Nichterreichten: dies ist bewußte Arbeit, die das wichtigste Fundament für ein Leben in Gemeinschaft darstellt.

Hinzu kommt, daß eine beträchtliche Zahl der Mitglieder dieser Gemeinden zeitweilig auf kapitalistischen Haciendas oder im urbanen Bereich (als Taglöhner in der Holzindustrie, im Baugewerbe und bei der Errichtung von Straßen und Staudämmen, etc.) gearbeitet haben. Das hat den Gemeinden geholfen, ihre eigene soziale Struktur besser zu verstehen und der Tendenz einer Isolierung, die Pionierdörfern eigen ist, entgegenzuwirken. Die zeitweiligen Lohnarbeiter begünstigten den Informationsfluß und ermöglichten sich selbst und ihren Gemeinden, sich mit anderen Schichten von Arbeitern zu identifizieren. Darüber hinaus brachten sie die Kenntnis der Sprache der dominanten Kultur (Spanisch) ein, die sie während ihrer Zeit als Lohnarbeiter erlernen mußten. Einige dieser Charakteristika haben verschiedene Mitglieder des Oberkommandos der EZLN (z.B. Tacho) und der militärischen Führung (z.B. Major Moisés und Major Andrea), während andere eine Kultur repräsentieren, die nahezu ausschließlich bäuerlich-indigene Wurzeln hat (die bekanntesten Beispiele: Comandante Ramona und Trini).
Sowohl die dynamische Natur und soziale Zusammensetzung der Gemeinden als auch die zapatistische Bewegung provoziert insgesamt mehr Fragen, als Antworten gefunden werden. In der Tat könnte argumentiert werden, daß die Zapatistas eine permanente Hinterfragung nicht nur der Sozialismus-Ideen des 20. Jahrhunderts darstellen, sondern auch des sozialen Lebens insgesamt, im Hinblick auf Selbstorganisation und -transformation. Traditionelle Gemeindekultur und ihre soziale Zusammensetzung und Dynamik sind notwendige, aber nicht ausreichende Elemente, um die Metamorphose zu erklären, durch die die traditionellen Gemeinden zu aufständischen politischen Gemeinden wurden.

L. Lorenzano

Originaltitel: Zapatismus: Neuordnung der Arbeit, Radikale Demokratie und das Revolutionäre Projekt. in: J. Holloway / E. Peláez, Zapatista! Reinventing Revolution in Mexiko, S. 126-158, Pluto Press, London & Sterling 1998.