Comunicado der EZLN 15. August 2024
I Das Ziel des Kritischen Denkens besteht nicht darin, die Wahrheit zu finden (und somit eine neue Alibi-Geschichte für die jeweilig herrschende Willkür zu schaffen), sondern "Wahrheiten« zu hinterfragen, sie zu konfrontieren, zu entwaffnen und zu zeigen, was sie sind: die blödsinnige Meinung eines oder mehrerer Idioten (na klar, auch die einer oder mehrerer Idiotinnen, um die Geschlechterparität nicht zu vergessen), denen viele oder wenige folgen. Das Kritische Denken ist nicht nur eine theoretische Positionierung. Es ist vor allem eine ethische Position gegenüber Erkenntnis und Wissen sowie der Realität. II Das, was sie "Geschichte« nennen (ja, großgeschrieben), stellt lediglich einen durch Politiker und ihre Schreiberlinge ungeschickt geschminkten Kadaver dar. An den Tisch des [jeweiligen] Politikers an der Macht setzt sich jedoch kein Skelett. Da ist eher ein Spiegel. Sein Rahmen kann verschönert werden; der Spiegel wird jedoch weiterhin den eigentlichen Zerfall, die Verwesung der Wirklichkeit widergeben. Der Unterschied zwischen den Särgen ändert nicht die Ähnlichkeit dessen, was sie bergen. Wenn die Regierungen den Spiegel beschuldigen, konkav zu sein und somit die Realität zu deformieren, streben sie danach zu verbergen, dass es ihr eigener Blick ist, der die Deformationen ausschließt [zu sehen]. Es ist derselbe Blick, in dem ER (1*) derjenige ist, welcher alles illuminiert, aufklärt und einfärbt. Die vergangene geschichte (nun, kleingeschrieben) bildet nichts anderes als den Vorlauf des gegenwärtigen Alptraums. Heute arbeiten sie auf den Tod und die Zerstörung des Morgen hin. III Die Idee [die Vorstellung] geht nicht der Materie [der Materialisierung] voraus. Vielmehr im
Gegenteil. Keine soziale oder philosophische Theorie hat dem Kapitalismus als herrschendes
System den Ursprung gegeben. Auch nicht seinen unterschiedlichen Etappen. Die
Gesellschaftstheorie stellt ein gigantisches Regal mit Ideen dar, auf welche die unterschiedlichen
politischen Vorschläge – in ihrer Suche nach Begründungen, um dem Unsinnigen, dem Unrechten Die Gesellschaftstheorie der jeweiligen Mode wird lediglich zu einem Bestseller des Augenblicks. Sie kommt daher mit Selbsthilfe-Theorien zum Gewinnen von Freunden ("Followers« wird nun dazu gesagt) oder mit Begründungen wie "Der Zweck heiligt die Mittel«, je nachdem ob es sich dabei um Konservatismus oder Progressismus handelt (der ja nichts anderes als weich [gekochter] Konservatismus ist). Was dem Kapitalismus einen Ursprung gibt, ist ein Verbrechen. Und jede Etappe seiner Entwicklung ähnelt der eines Serienmörders: Jedes mal gewinnt er mehr Erfahrung hinzu. Die Arbeit der regierungsnahen Theoretiker besteht darin, das Verbrechen mit etwas Romantizismus, Abenteuer und, na klar, Leichtfertigkeit aufzuhübschen. In der Gesellschaftstheorie wird Verständnis zumeist nicht gesucht, um ein System zu revolutionieren – das heißt, seine materiellen Grundlagen zu ändern. Was die "Theoretiker« (gestern noch in der Opposition, heute regierungsnah) suchen, ist eine Ablösung, eine Nachfolge innerhalb ihrer Bruderschaft. Deshalb sind die aNexos (*2) von gestern die heutigen Karikaturen-Zeichner. Die Namen und Ämterpositionen wechseln; es bleibt jedoch bei derselben Lobhudelei. Ja klar, und der Bezahlung. Die Reaktion der intellektuellen Rechten ist die eines zerstrittenen Paares, das erbost darüber ist, weil eine*r sich eine*n andere*n ausgesucht hat. Und diese anderen sind darauf aus, das Pöstchen der Umarmten von gestern zu besetzen. Sie teilen dieselbe intellektuelle Dürftigkeit, somit gibt es auch keinerlei Schwierigkeit. Der Historiker von heute passt die Geschichtsschreibung dem Geschmack des Befehlsgebers, des Mandón, an. Er wendet sich an das Bücherbord der Ideen, um Persönlichkeiten zu suchen – sei es um einen gewöhnlichen Mann oder einen Helden zu konstruieren. Heutzutage schließt das die gewöhnliche Frau oder die Heldin mit ein; das ist die wohlwollende Konzession an einen Feminismus, der sich mit einem Nichts oder Wenig zufrieden gibt. Die größte Angst des zeitgenössischen Historikers besteht darin, ganze Gruppen, Kollektive und Pueblos als Träger einer Zeitperiode zu finden. Wer kann schon ein Buch mit der Biographie eines Nicht-Individuums verkaufen? Denn dies bedeutet ja eine Comunidad. Der zeitgenössische Historiker verkauft Alibis, Schein-Geschichten; sie bewerben und stützen die Pappmaché-Histörchen der Macht. Für sie stellt die Geschichte das Bühnenbild im Hintergrund dar, welche ihre eigene glänzende Präsenz erstrahlen lässt. Die in den Macht-Zirkeln entstandenen Biographien und Untersuchungen bilden das literarische Äquivalent einer prächtigen Bühnenmalerei über die Pueblos originarios. Somit werden die Kalender zu ihrem Nutzen ausgerichtet und erfolgte Niederlagen eines Imperiums durch ein anderes werden in Siege gewandelt. Die Verwirrung ist so groß, dass gedacht, darauf bestanden und argumentiert wird: Das Azteken-Imperium stellte das Allheilmittel der Pueblos originarios vor der spanischen Conquista dar;
Russland ist die Sowjetunion; China ein Land mit Kommunismus als herrschendem System; und
die Leute sind weise, wenn sie Lula, Kirchner, PSOE, Macron oder Harris wählen, jedoch ignorant
bei der Wahl von Bolsonaro, Le Pen, Milei oder Trump. Weniges ist so sehr käuflich als die Innerhalb der unbekannten Geschichte vom Aufgeben der Überzeugungen greifen diejenigen, die
schweigen und erwachsen werden (so wird es ihnen in der Kaderschule der Partei gelehrt), auf das
Regal der Ideen zurück, um etwas zu kaufen, was ihnen nützlich ist. Es ist jedoch unnütz: Der
Verrat an Prinzipien und Überzeugungen ist ein Aufgeben, auch wenn sich [theoretisch] in
Poulantzas (*3) gekleidet wird. Das "linke« Motto ändert nicht das Wesentliche der einen Tatsache:
Aufgeben bedeutet Komplizenschaft mit einem Verbrechen, dem schlimmsten von allen: dem gegen V In der Politik gibt es keine Toten, nur wiederkehrende Kadaver. Wie es von Pedro Infante (*4) gesagt wird: Die PRI-Partei ist nicht gestorben, sie lebt im Herzen aller anderen politischen Parteien. Deshalb wechseln die professionellen Politiker die Embleme und Kürzel [ihrer Parteien] problemlos wie Unterhosen. Obzwar sie sie wenigstens waschen … oder auch nicht. Es gibt keine Unterschiede zwischen fortschrittlichen und rechten Politikern, wie es auch keine fundamentalen Unterschiede zwischen guten und schlechten Herren gibt. Beide verwalten einen Raub, eine Enteignung. Die politischen Optionen unterscheiden sich nicht in ihren Zielen (an der Regierung zu sein), noch in ihrer Praxis (der ökonomischen Macht zu dienen). Lediglich in ihren Alibi-Geschichten. VI In seiner aktuellen Etappe setzt das System einen neuen Krieg der Eroberung um, sein Ziel ist: zerstören/ wieder aufbauen; entvölkern/ wieder bevölkern. Zerstörung/ Entvölkerung und Wiederaufbau/ Neuanordnung einer Zone ist Ziel dieses Krieges. Die Regierung Israels ist nicht dabei die Attentate der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu rächen, sie zerstört und entvölkert ein Gebiet. Das Geschäft liegt nicht nur in der Zerstörung und dem Massenmord, es wird im Wiederaufbau und der Neuanordnung liegen. Deshalb die offensichtliche Komplizenschaft der Nationalstaaten der Welt. Wenn die "Nationen« Israel militärische Ausrüstung schicken, unterstützen sie damit nicht nur den Genozid gegen den palästinensischen Pueblo. Sie investieren [auch] in dieses Verbrechen. Später werden sich die Dividenden dieses Geschäftes dann schon einstellen. VII Es gibt keine "guten« oder "schlechten« Zerstörungen. Es werden Ausreden oder Farben
gewechselt, aber das Ergebnis ist das Gleiche. Zwischen dem Tren del Istmo, der Isthmus-Zugstrecke im Isthmus der Porfirio-Díaz-Diktatur, dem Plan Pueblo-Panama [unter der
Präsidentschaft] von Vicente Fox, dem Transístmico-[Industrie-]Korridor der [jetzigen Noch- Einige sind damit gescheitert, dem anderen wird es auch passieren. Ziel des Transístmico-[Industrie-]Korridors ist nicht Wohlstand (dies ist auch nicht das Ziel der großen Kapitale), ebenso nicht eine porfiristische Modernisierung von Enteignung und Raub. Er wird schlicht und einfach eine Grenze zusätzlich zu den bereits bestehenden bilden. Und so wie die beiden anderen Grenzen [im Norden und Süden Mexikos] wird auch diese durchbrochen werden. Nicht von tausenden Migrant*innen sondern von Korruption und Zynismus, welche die Neo-Sklavenhändler von heute, Jahrhunderte später, entdecken: Der Menschen-Handel ist ein Geschäft mit einer immensen Quelle an Rohstoff (geschaffen durch die Kriege und Politik der verschiedensten Regierungen). Die Investition von Kapital bleibt minimal: Du brauchst nur Bürokratie, Grausamkeit und Zynismus. Und davon gibt es innerhalb von Kapital und Staat eine ganze Menge. Die sogenannten Mega-Projekte führen nicht zu Entwicklung. Sie sind lediglich die offenen
Handelskorridore, damit das organisierte Verbrechen neue Märkte erhält. Der Disput zwischen
rivalisierenden Kartellen ist nicht nur wegen dem Handel mit Menschen und Drogen, sondern es
geht vor allem um das Monopol der Erpressungsgelder [innerhalb der Mega-Projekte] des falsch
benannten "Tren Maya« sowie des "Transístmico-Korridors«. Von Bäumen und Tieren können sie Dermaßen wird das Anwachsen von Kriegen um die territoriale Kontrolle abgesichert. Das Hologramm eines Staates-Nation wird darin unauffindbar sein. Vom Gesichtspunkt auszugehen, die Gewalt von dem, was sie "Organisiertes Verbrechen« nennen, bilde eine Anomalie des Systems, ist nicht nur falsch, sondern verhindert zu verstehen, was geschieht (und sich folglich auswirkt). Es handelt sich hierbei nicht um eine Irregularität sondern um eine Folge. Das Ziel ist einvernehmlich: Der Staat will einen offenen Markt ("frei« von Störenfrieden, das heißt, den Pueblos originarios) – und die anderen wollen die Kontrolle eines Gebietes. Ähnlich dem, was Staatsmonopolistischer Kapitalismus genannt wurde – wo das Kapital darauf wartete, dass der Staat die Konditionen für seine Einführung und Entwicklung schaffe – handelt es sich nun um ein "Zangen-Manöver«, wie es die Militärs nennen: Beide – Staat und Organisiertes Verbrechen – nehmen ein Gebiet in die Zange, sie zerstören und entvölkern es; danach tritt das große Kapital auf, um wieder aufzubauen und neu anzuordnen. Es lügen diejenigen, die sagen, es gäbe zwischen den Regierungen und dem organisierten Verbrechen, eine Allianz; derart wie es ja auch keine Verbindung zwischen einem Unternehmen und seinen Kund*innen gibt. Das, was es gibt, ist eine simple – wenn auch kostenreiche – Handelsoperation: Der Staat bietet [s]eine Abwesenheit an und das entsprechende Kartell "kauft« diese Abwesenheit und vertritt/ersetzt den Staat innerhalb einer Ortschaft, Region, Zone, innerhalb eines Landes. Gewinn und Verdienst von Verkäufer und Käufer sind beidseitig; der Verlust ist für diejenigen, die an diesen Orten überleben. "Wer bezahlt oder leiht, der befiehlt, bestimmt«, so lautet der altgediente Aphorismus, den Chronisten und "Sozialwissenschaftler "vergessen« haben. Bezüglich dem, was "Organisiertes Verbrechen« genannt wird, stellen Staat und Kapital eine falsche Berechnung an (as usual, wie gewöhnlich): Sie gehen davon aus, der Angestellte werde sich an das Vereinbarte halten und nicht auf eigene Rechnung operieren. So wie es beim Hervorrufen und der Schaffung der paramilitärischen Gruppen geschehen ist, von
denen gedacht wurde: Sie sind von Indígenas gebildet, also können sie kontrolliert werden. Denn
nach allem handelt es sich ja bei ihnen um unwissende und manipulierbare Leute. Und dann [folgte]
Acteal. Die Abejas [von Acteal] haben recht: Das Massaker von Acteal 1997, mit seiner
Grausamkeit und nachfolgenden Straflosigkeit, war nur das Präludium des aktuellen Alptraums. Der Nun, versuche jetzt die Frage zu beantworten: Warum wachsen gegenwärtig in einem Bundesstaat, der seit 30 Jahren militarisiert wird, die Kartelle und deren Konfrontationen an – dies mit der offiziellen Genehmigung derer, die den südöstlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas invadierten und dabei anführten, sie würden damit die "Balkanisierung« der Republik verhindern (*5)? Ja, es scheint, das mexikanische Territorium ist fragmentierter als jemals zuvor. (Fortsetzung folgt …) Aus den Bergen des Südosten Mexikos,
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