Polizeiterror in Atenco
Bericht der Menschenrechtskommission


Am 29. Mai 2006 begann die Internationale Zivile Beobachtungskommission für Menschenrechte in Mexiko mit Untersuchungen zu den Repressionen in San Salvador de Atenco am 3. und 4. Mai.
Hier ihr Bericht und ein Interview mit Inaki Garica, Sprecher der Kommission.


Bilanz der Untersuchungen

1. Die Kommission sieht es als bewiesen an, dass mit den Ausschreitungen seitens der Polizei im Verlauf deren aktiver Operation am 3. und 4. Mai gegen die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und die Möglichkeit der Rechtfertigung verstoßen wurde, sowie gegen die absolut dringende Notwendigkeit einer entsprechenden Einsatzleitung. Die internationalen Standards zum Schutz der Menschenrechte wurden nicht respektiert.

2. Deshalb erachtet es die Kommission als Tatsache, dass die Polizeikräfte sich nicht im Rahmen des Rechtsstaates bewegten, wie er entsprechend der Politischen Verfassung der Vereinten Staaten Mexikos, den internationalen, von Mexiko ratifizierten Abkommen und den anzuwendenden Gesetzen und Regelungen, vorgesehen ist.

3. Die Kommission sieht in den polizeilichen Missbräuchen eine erhebliche und massive Verletzung der Menschenrechte, die sich durch eine Reihe mutzumaßender, krimineller Handlungen zeigen, wie den illegalen Festnahmen; dem ungerechtfertigten Eindringen in Wohnungen; dem Tod einer Person; einer Gewalttat mit Todesfolge durch Hirnschlag; durch Akte der Folter; vielfältige physische, verbale und moralische Aggressionen; schwere Angriffe auf die sexuelle Entscheidungsfreiheit (inklusive Vergewaltigungen); die Verletzung der prozessualen Rechte der Verhafteten; unter vielen anderen mehr.

4. Die Kommisson betrachtet die Genehmigung dieser Ausschreitungen oder polizeilichen Missbräuche seitens der eigenen Machtbefugten nicht als genügend für eine Freistellung von Verantwortlichkeiten der darin Verwickelten von Seiten des Staates. Die föderalen und staatlichen Machtbefugten, die durch Auslassung oder aktive Beteiligung, an der Ausarbeitung oder Planung, sowie an der Durchführung dieser polizeilichen Operation Teil hatten, müssen identifiziert, gerichtlich verhandelt und sanktioniert werden.

5. Hinsichtlich dieser Verantwortlichkeiten müssten nach Ansicht der Kommission folgende, erste Maßnahmen ergriffen werden: 1) die sofortige Amtsenthebung des Generalkommisars der Vertretung der Staatssicherheit David Pintado Espinos als Hauptverantwortlicher für die Polizeioperation der Staatspolizei; 2 ) die sofortige Amtsenthebung des Operateurs der föderalen Präventivpolizei Bevollmächtigter Alejandro Eduardo Martínez Aduna und des Hauptbefehlshabers des Staates Brigadegeneral Ardelio Vargas Fosado.

6. Die Kommission betrachtet die in dieser dokumentativen Informationsschrift beschriebenen, gravierenden Menschenrechtsverletzungen, als unmittelbare Konsequenz des strukturellen Problems der Straflosigkeit, welche im Verlauf der Geschichte bis zum heutigen Tag, von den Beamten der verschiedenen mexikanischen Sicherheitsformationen in Ausübung ihrer öffentlichen Funktion genossen worden ist. In diesem Sinne erachtet die Kommission die Einleitung der legalen Reformen für unumgänglich, die notwendig sind, um Polizeibeamten begangene Verbrechen bestmöglich zu verfolgen, sowie zur Aufklärung der Verantwortung ihrer hierarchischen Vorgesetzten. Jede Situation von Straflosigkeit muss in Zukunft unmöglich gemacht werden.

7. Die Kommission sieht es als notwendig an, das juristische System mit den Instrumentarien auszustatten, die dazu geeignet sind, die internationalen Standards hinsichtlich des Einsatzes der Polizei und von Waffen umzusetzen und den Respekt der Menschenrechte zu garantieren. außerdem muss die Beteiligung von Mitgliedern der mexikanischen Armee an polizeilicher Arbeit vermieden werden.

8. Die Kommission hält eine schnellstmögliche Vorgehensweise bei der Untersuchung und Aufklärung der in Atenco vorgefallenen Taten für angebracht. In diesem Sinne zeigt die Kommission ihre Besorgnis darüber, dass die begonnene Wahlkampagne eine ungerechtfertigte Verzögerung der Untersuchung und Verfolgung der für die in dieser Informationsschrift beschriebenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Polizeibeamten anzeigt.

9. Außerdem muss es eine Wiedergutmachung für die Schädigung der Opfer geben und es müssen passende Maßnahmen zur Vermeidung einer künftigen Wiederholung der beschriebenen Situationen eingeleitet werden.

10. Die Kommission sieht die Notwendigkeit der unmittelbaren Freilassung auf der Basis der Unschuldsvermutung der verhafteten Personen, die noch immer Gefangene der Strafanstalten von Santiaguito und La Palma sind. Außerdem hält sie die Aufhebung der Maßnahmen der Ausweisung, die auf gerichtliche Anweisung gegen während der Polizeioperation festgenommene, ausländische Personen angewandt wurden, für unaufschiebbar.

11. Die Kommission fordert alle politischen Akteure, die Zivilgesellschaft im allgemeinen und speziell die nationalen und internationalen Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte dazu auf, innerhalb ihrer Gegebenheiten als Garanten der Demokratie eine aktive Kontrollfunktion und Supervision über die Vorgehensweise der politisch Mächtigen als DemokratiegarantInnen auszuüben.
In diesem Sinne gibt die Kommission die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der begonnenen, zivilen Beobachtung bekannt und folgert hieraus die Einrichtung einer Kommission zur Verfolgung des Verlaufs der Forderungen. Ebenso hat die Kommission die Mechanismen des Internationalen Schutzes der Menschenrechte in Bewegung gesetzt; im konkreten, dringende Mitteilungen an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte und verschiedene Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen. Letztlich verstehen wir die in dieser Informationsschrift angeklagten Taten, als um so relevanter aufgrund der Tatsache, dass Mexiko die aktuelle Präsidentschaft des Menschenrechtsrats der UN innehat.

12. Die Kommission macht auf die Existenz eines gemeinsamen Minimums an Entschädigungsmassnahmen für individuelle und kollektive, geschehene Schädigungen aufmerksam, die unverzüglich angewandt werden müssen. Diese Entschädigungsmassnahmen müssten mindestens von den Betroffenen selbst abgestimmt werden und der Rechtssprechung, wie sie vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, für vergleichsweise Situationen, festgelegt sind, wie folgt entsprechen:

- moralische Entschädigung: Wiederherstellung der Ehre der Opfer und ihres beschädigten privaten und öffentlichen Ansehens durch die offizielle Anerkennung der ungerechten und verletzenden Behandlung, welche sie erhalten haben und des Schadens, der dadurch verursacht worden ist, dass sie als Kriminelle angesehen wurden

- emotionelle Entschädigung: Es müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, damit die Gemeinde insgesamt und die betroffenen Personen und Familien im besonderen adäquate medizinische und psychologische Zuwendung von Professionellen ihres Vertrauens, welche die Notwendigkeiten festlegen, erhalten. Dies ist besonders relevant hinsichtlich der psychologischen oder psychiatrischen Behandlung, deren Basis es ist, dass die Betroffenen Vertrauen in die sie therapeutisch Behandelnden haben können

- Wiedergutmachung des Schadens an der Gemeinschaft durch Maßnahmen zur Wiederherstellung des sozialen Gefüges. Diese dürfen sich in keinem Fall durch Hilfsprogramme, Systeme, die an Bedingungen geknüpft sind, oder Druckausübung durch einen falschen Konsens in Werkzeuge der Spaltung und Konfrontation verwandeln. Deshalb wird die Monitorisierung dieser Maßnahmen durch unabhängige Organismen, nationalen und internationalen Charakters, empfohlen

- ökonomische Entschädigung: Ausgleich für die erlittenen Schädigungen als Konsequenz der Gewalt (wirtschaftlich, im Bereich Bildung, Gesundheit u.a.) und besonders im Falle derjenigen, welche in Folge der verübten Gewaltakte oder vorheriger Schikanen ihren Arbeitsplatz verloren haben

- Reparation durch Legalität: Justizprozesse, die zu einer Bestrafung jener Taten führen, die durch den Legalitätsbegriff als Verbrechen definiert sind. Ohne eine tatsächliche und wirksame Justiz (im Sinne von Gerechtigkeit) wird jede Form von Entschädigung parteiisch bleiben.

- Soziale Entschädigung: Ausformulierung der Mechanismen, welche eine Garantie dafür geben, dass keine Einschränkungen der Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte und der an ihnen sozialen und politischen, individuellen oder organisierten Teilnahme der Bevölkerung von Atenco besteht. Die unfehlbare soziale Wiederherstellung des vorherigen Atenco, durch die aktive und geplante Teilhabe seiner EinwohnerInnen am gemeinschaftlichen Leben

- Historische Reparation: Die Anerkennung der geschichtlichen Wahrheit, welche die Bildung eines kollektiven Erinnerns erlaubt, durch das ähnlichen Situationen in der Zukunft vorbeugt wird

- Die Wiederherstellung des Zusammenlebens ist ein komplexer Prozess, weit über die Suche nach Wahrheit oder nach Gerechtigkeit hinaus, um in einer letzten Station die ursprünglichen Gründe des Konfliktes zu haben. Wie so oft finden sich seine Wurzeln in strukturellen Gründen (Armut, Ungleichheit, Zugang zu Ressourcen, dem Fehlen eines realen Zutritts zu Kanälen der politischen Teilhabe, etc.).

In diesem Sinn bedeutet die erste Entschädigungsmaßnahme für die Bevölkerung von San Salvador Atenco und die erste Einklage, die in den Interviews mit EinwohnerInnen wiederholt aufgenommen wurde, die Berücksichtigung der Konfliktursachen, die in dieser Informationsschrift analysiert sind. Deshalb ist diese Berücksichtigung auf justizielle Weise und entsprechend der Forderungen nach Bildung, Gesundheit, Strassenanbindung und öffentlichen Arbeiten, oder der Betreibung öffentlicher Räume, um einige der bekanntesten Teile zu benennen, ohne jeden Zweifel das erste Element einer Wiedergutmachung.

Diese Schlussfolgerungen und Forderungen können unterzeichnet werden auf: http://cciodh.pangea.org Teléfono (0052) 55785563 Handy 044 55 32758122 E-Mail: cciodh@pangea.org

 

"Soziale Probleme sollen mit Gewalt gelöst werden"
Gespräch mit Inaki Garcia,
Sprecher der Internationalen Zivilen Menschrechtskommission CCIODH.



Die Internationale Zivile Menschrechtskommission, deren Sprecher Sie sind, ist in der vergangenen Woche aus Mexiko zurückgekehrt. Was war der Anlass für die Reise?

Wir waren sehr besorgt, als wir von den Ereignissen Anfang Mai in dem mexikanischen Dorf San Salvador Atenco unweit der Hauptstadt hörten. Eine Demonstration der linken Bauernorganisation FPDT (Volksbündnis zur Verteidigung des Landes) gegen zunehmende Repression ist am 3. Mai von rund 3.000 Polizisten brutal angegriffen worden, über 200 Demonstranten wurden festgenommen.
Ein Jugendlicher wurde erschossen, eine Person liegt im Koma. Es gab 30 Schwerverletzte und ungezählte Vorwürfe wegen Vergewaltigungen. Über zwei Tage hinweg kam es zu Polizeiübergriffen auf die Gemeinde. Fünf Ausländerinnen, darunter zwei Frauen aus Barcelona, wurden anschließend ausgewiesen. Auch sie berichteten uns von Misshandlungen, sexuellem Missbrauch und der Situation der Gefangenen.
Auslöser der Übergriffe waren Proteste von Blumenhändlern, die samt ihrer Verkaufsstände aus dem Dorf vertrieben werden sollten. An diesem Wochenende legen wir unseren 70seitigen Bericht vor.

Ihre Kommission hatte zunächst die Aufgabe, die Aussagen aller Beteiligten zu sammeln. Wie war die Zusammenarbeit mit den Behörden?

Insgesamt waren die Reaktionen auf unsere Untersuchung positiv. Wir haben mehr als 150 Interviews geführt. Organisationen, die die Vorfälle aufarbeiten, Gefangene, Rechtsanwälte sowie Familienangehörige gaben uns ihre Aussagen. Die staatlichen Behörden zögerten hingegen die Gespräche hinaus, haben dann aber auch mit uns geredet. Schließlich konnten wir als erste Organisation das Gefängnis, in dem die Festgenommenen gelandet sind, besuchen und haben dort mit 27 Inhaftierten gesprochen. Einen Monat nach ihrer Verhaftung haben sie noch immer keinen Zugang zu medizinischer Hilfe, obwohl es mehrere Frauen gibt, die vergewaltig wurden und dringend medizinische und psychologische Hilfe benötigen. Ein behinderter Mensch im Rollstuhl wurde bei seiner Verhaftung schwer misshandelt. Ihm wird vorgeworfen, neun Polizisten entführt zu haben.
Wir konnten auch mit den Eltern des 20jährigen Studenten, der seit dem Polizeieinsatz im Koma liegt und für gehirntot erklärt wurde, sprechen. Uns wurde ein Bild des Grauens präsentiert.

Wie hat die Regierung auf die Vorwürfe reagiert?

Sie rechtfertigt das Vorgehen der Polizei damit, dass die FPDT Menschen entführt und gewalttätig protestiert habe. Regierung und Polizeiführung beharren darauf, dass bei dem Polizeieinsatz am 3. Mai keine Waffen eingesetzt worden seien. Dabei wurde an dem Tag ein 14jähriger Junge erschossen. Uns wurde aber zugesagt, dass administrative Untersuchungen gegen einige Polizisten eingeleitet würden.

In einem Monat wählt Mexiko eine neue Regierung. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000 als Vincente Fox Präsident wurde, gab es große Hoffnungen auf eine demokratische Entwicklung. Wie beurteilen Sie die Lage fünf Jahre danach?

Die Hoffnungen, die mit dem Regierungswechsel verbunden waren, wurden enttäuscht. Die sozialen Konflikte haben an Schärfe zugenommen und die Antwort heißt Repression. Es ist eine sehr komplizierte Situation entstanden. Der Fall Atenco symbolisiert die Gefahr, dass soziale Probleme mit Gewalt gelöst werden. Aus unserer Sicht ist es eine moralische Pflicht, für das Recht einzutreten, sich zu organisieren und soziale Probleme zu lösen. Wir dürfen deshalb nicht zulassen, dass eine ganze Gemeinde bestraft wird und zerstört werden soll, um Widerstand im Keim zu ersticken.