Aus dem Notizheft des Gato-Perro (Katzen-Hund):
Gestern: Theorie und Praxis

30. April 2021

Eine Vollversammlung, eine Asamblea in einem Dorf in den Bergen des Südosten Mexikos. Es muss so im Juli, August des vergangenen Jahres gewesen sein, damals als die Corona-Pandemie sich des gesamten Planeten bemächtigte. Es ist nicht irgendeine Versammlung, die da stattfindet. Nicht nur wegen der Verrücktheit, die sie zusammenruft, sondern auch wegen den Abständen zwischen Stuhl und Stuhl und weil die Farben der Mund-Nasen-Masken den transparenten jedoch beschlagenen Gesichtsschutz durchdringen.

Versammelt sind hier die politisch-organisatorischen Mandos, die Verantwortlichen des EZLN. Auch sind dort einige der militärischen Mandos, die im Stillschweigen verbleiben, außer sie werden gebeten, sich zu einem bestimmten Punkt zu äußern.

Es sind da mehr anwesend als man denken würde. Da gibt es mindestens 6 Maya-Sprachen, und sie nutzen spanisch, »la castilla«, als Brücken-Sprache, um sich unter einander zu verständigen. Einige der Anwesenden sind »Veteranen«. Sie nahmen am Aufstand vom 1. Januar 1994 teil, mit den Waffen in ihren Händen kamen sie – als eine oder einer mehr – zusammen mit tausenden von anderen Compañeras und Compañeros hinunter in die Städte. Anwesend sind auch »die Neuen«, Männer und Frauen, die sich nach vielem Lernen der zapatistischen Leitung angeschlossen haben. Die Mehrheit »der Neuen« sind »die Neuen«: Frauen jeglichen Alters und verschiedener Sprachen.

Die Versammlung reproduziert in ihrem Ablauf, in ihren Zeitverläufen und Art und Weisen die Vollversammlungen, wie sie in den Comunidades, den Gemeinden abgehalten werden. Da ist eine*r, die*der die Zusammenkunft koordiniert, eine*r, der*die das Wort erteilt und anzeigt, welches der zuvor vereinbarten Themen jetzt dran ist. Es gibt keine Zeitbegrenzung der jeweiligen Beiträge, sodass die Zeit hier einen anderen Rhythmus erlangt. Ein*r ist gerade dabei, eine Geschichte oder ein Märchen oder eine Legende zu erzählen. Für keine*n spielt es eine Rolle, ob das, was erzählt wird, der Wirklichkeit entspricht oder eine Fiktion ist. Wichtig ist, was damit ausgesagt wird.

Die Geschichte geht so:

Ein zapatistischer Mann geht durch ein Dorf. Er trägt seine beste Kleidung und seinen neuen Hut, denn er ist, wie er sagt, auf der Suche nach einer Braut. Der Erzähler imitiert Schritt und Gesten, die er in einem der Filme während des ersten Kino-Festivals »Puy ta Cuxlejaltic« (1) gesehen hat. Die Asamblea lacht als er den Sprachstil des Cochiloco (gespielt von Joaquín Cosíoin »El Infierno – Die Hölle« von Luis Estrada, 2010) nachahmt und seinen Hut ziehend eine imaginäre Frau grüßt, die an ihm entlanggeht mit ihrem imaginären Maultier, welches Brennholz transportiert. Beim Sprechen mischt der Geschichtenerzähler Spanisch mit einer der Maya-Sprachen, sodass innerhalb der Vollversammlung ohne Unterbrechung unter einander übersetzt wird.

Derjenige, der erzählt, erinnert daran, dass gerade die Zeit der Maiskolben ist; die gesamte Versammlung pflichtet ihm bei. Und weiter geht es mit der Erzählung:

Der Mann mit Hut trifft auf einen Bekannten und sie begrüßen sich. »Derart, mit so einem Hut und so elegant, habe ich dich fast nicht erkannt«, spricht sein Bekannter. Der Besagte gibt ihm zur Auskunft: »Weil ich auf Braut-Werbung bin.« Der andere darauf: »Ah, und wie heißt deine Freundin und wo wohnt sie?«»Nun, das weiß ich nicht«, antwortet der mit Hut. »Wie, das weißt du nicht?« erwidert der andere. »Ich sagte doch: Ich bin am Suchen. Wenn ich sie bereits gefunden hätte, ja, dann wüsste ich ihren Namen und wo sie wohnt«, meint der Mann mit dem Hut. Der andere bewertet eine Sekunde lang dessen unschlagbare Logik und schweigt daraufhin.

Die Reihe ist nun an dem mit dem Hut: »Und du, was machst du so?« Der andere antwortetet mit: »Ich pflanze Mais, denn ich möchte Maiskolben haben.« Der Mann mit dem Hut verbleibt eine Weile ganz still, sieht den anderen an, wie er so dasteht – mit einem Besenstiel, mit dem er Löcher in den Kiesweg macht. Der Hutträger meint: »Hör mal, Gevatter, bei allem Respekt, aber du bist ganz schön doof.« Der andere daraufhin: »Nun, und warum wohl? Ich hab Spaß bei der Arbeit und bin fest entschlossen, Maiskolben zu essen.«

Der Mann mit dem Hut setzt sich hin, zündet eine Zigarette an, gibt sie an den anderen weiter und zündet sich noch eine Zigarette für sich selbst an. Es scheint, dass die beiden keinerlei Eile haben: Weder der Hutträger bei seiner Brautsuche, noch der Andere mit seinem Maiskolben-Essen-Wollen. Der Abend dehnt sich aus, der Nacht stückchenweise noch etwas Licht entreißend. Immer noch hat es nicht geregnet, jedoch beginnen am Himmel graue Wolken aufzuziehen, um ihn zu bedecken. Der Mond lugt zwischen den Bäumen hervor. Nach einem ausgedehnten Schweigen erklärt der Mann mit dem Hut: »Schau mal, Gevatter. Mal gucken, ob du mich verstehst: Zu erst ist da der Boden. In diesem Kies-Gelände wird der Mais nicht aufgehen. Der Samen wird nieder getrampelt werden, und es gibt da nichts, wo der Mais anwurzeln könnte. Die Saat geht nicht auf, sie stirbt ab. Und dann noch dein Besenstiel, den du als Pflanzstock verwendest: Besen ist Besen und Pflanzstock ist Pflanzstock, darum ist dieser arme Besenstiel bereits ganz abgebrochen und geflickt.«

Der Mann mit dem Hut nimmt den Besenstiel, guckt sich die Flickarbeit an, die der andere mit Klebeband und Seil vorgenommen hat, und fährt fort: »Auch wird sich, Gevatter, meine Gevatterin daran stören, wenn sie sieht, wie ihr Besen beschädigt wurde. Sie werden mich wohl zum Schlafen in die Berge schicken.«

Er spricht weiter: »Und somit, Gevatter, die Milpa, das Mais-Feld: Nicht einfach irgendwo und mit irgendwas anlegen. Es hat seinen Ort und auch sein Mit-was. Außerdem ist jetzt nicht die Saison, um ein Maisfeld anzulegen; jetzt ist Ernte-Zeit. Und damit es diese Ernte gibt, hast du hart gearbeitet auf der Milpa. Das heißt, die Erde folgt nicht dem Ruf:»Hey, Alte, gib mir meinen Pozol (2) und meine Tortillas«, mit dem du nach der Gevatterin gerufen hast – zumindest solange, bis sie sich mit den »Frauen, die wir sind« zusammengetan und dem Herumschreien ein Ende gesetzt hat, aber das geht auf deine Kappe, Gevatter. Was ich dir sage, ist: Der Erde werden keine Befehle gegeben, sondern es wird ihr erklärt, zu ihr gesprochen, sie wird geehrt und es werden ihr Geschichten erzählt, damit sie sich belebt. Und nicht zu jeder Zeit hört die Erde zu, sondern sie hat, wie gesagt wird, ihren Kalender. Sie braucht, dass Tage und Nächte genau gezählt und Boden und Himmel betrachtet werden müssen, um zu sehen, wann genau ausgesät werden kann.«

»Darin liegt also, wie gesagt wird, die Problema. Denn es misslingt dir alles, so sehr du dich auch bemühst und an deinen Erfolg glaubst, nachdem du doch so eifirg und entschlossen bist. Was du brauchst, ist das Wissen. Die Sachen gelingen nicht einfach so – nur wegen der vielen Arbeit und der großen Entschlossenheit, sondern es braucht, dass du einen guten Boden aussuchst, die geeigneten Werkzeuge und die entsprechenden Zeitpunkte für jeden Teil der Arbeit. Das heißt, wie gesagt wird, es braucht Theorie und Praxis mit Kenntnissen – und nicht diese Dummheiten, die du machst und die dir peinlich sein sollten, weil alle es sehen und darüber lachen.«

»Die da lachen sind jedoch Dummköpfe, weil sie nicht merken, dass die Eulenspiegeleien, die du machst, auch sie treffen werden. Denn wo du Löcher machst, werden zuerst Wasserpfützen entstehen und wenn dann das Wasser seinen Lauf nimmt, werden tiefe Rinnen entstehen, Gevatter –wie die Falten deiner Großmutter – möge die meinige bereits im Himmel sein. Und somit wird das Auto des Rates der Guten Regierung hier nicht fahren können, sie werden stecken bleiben. Und die Compas müssen das Baumaterial oder die Einkäufe, die es bringt, auf dem Buckel tragen, und durch den Rinnen-Pfützen-See werden sie ihre Stiefel und Hosen ruinieren, zumal wenn sie so elegant sind wie meine – und niemals werden sie eine Freundin finden. Und die Compañeras, nun, noch schlimmer, denn sie sind zornig und wie. Sie werden einfach mit einem Esel, der ihre Sachen trägt, an dir vorbeigehen und sagen: »Dem zufolge gibt es wohl einen, der ist noch störrischer als mein Esel, und noch dümmer.« Und sie werden klarstellen: »Hör mal,wenn ich sage: »Jetzt aber los, verdammter Esel, musst du nicht beleidigt sein, denn ich spreche zu meinem Tierchen.«

»Was ist los, Gevatter, wird das jetzt so schwer genommen?«, meint der andere entrüstet.

Der Mann mit dem Hut: »Nein, ich sage das nur so. Nimm es als Rat oder als Orientierung, das ist kein Befehl. Jedoch, wie es der verstorbene Sup immer sagte: »Es ist besser, du machst, was ich sage, denn falls nicht und es geht schlecht dabei aus, werde ich dir sagen: Ich hasse es zu sagen,dass ich es dir ja bereits sagte – aber ich habe es dir bereits gesagt.« Deshalb hör‘ auf mich, Gevatter.«

Der andere: »Also dieser Boden taugt nichts? Auch nicht mein Pflanzstock und der Zeitpunkt?«

Der mit dem Hut: »Nein, nein, und nochmals nein.«

»Und wann ist der richtige Moment?«

»Uih, der ist bereits verpasst. Jetzt musst du auf das nächste Mal warten. Im April, Mai. Und damit dir das Wasser nicht ausgeht, musst du der Erde am 3. Mai ihr kleines Brot geben und gegen die Hitze ein Erfrischungsgetränk; schnell noch eine kleine selbstgedrehte Zigarette; ihre Kerzen und jemanden, der sie auslöscht; auch Obst und Gemüse bis hin zu einer Hühnersuppe. Der verstorbene Sup meinte: Alles außer Kürbis, denn wenn du der Erde Kürbis gibst, dann wird sie nur wütend und es entspringen ihr lediglich Schlangen. Ich glaube jedoch, er hat gelogen, das sagte er nur, weil er Kürbisse nicht mochte.«

»Also wann jetzt?«

»Hmm, nun, du wirst es sehen: Wir sind jetzt, wie gesagt wird, fast im Oktober, nun, dann in sechs Monaten. In April, Mai. Hängt jedoch davon ab.«

»Verflixt, und was mache ich, wenn ich jetzt sofort Maiskolben möchte?« Der andere verbleibt nachdenklich und plötzlich fügt er hinzu: »Ja, ich weiß wie! Ich werde die autonomen Verantwortlichen bitten, mir einige Maiskolben zu borgen.«

Der mit dem Hut: »Und wie sollen die Verantwortlichen diese ersetzen?«

»Ah, ich werde den Rat der Guten Regierung bitten, mir etwas zu leihen, und damit werde ich sie ersetzen. Und um es dem Rat zu ersetzen, leihe ich mir was von den Tercios (3). Und um es den Tercios zurückzugeben, werde ich mir erneut was von den autonomen Verantwortlichen leihen, und am Ende wird man dann sehen, ob ich zahle.«

Der mit dem Hut kratzt sich am Kopf: »Verdammt, Gevatter, das ist ja wie im Film von Vargas (4), du entpuppt dich als nicht besonders nett. Wenn du so wie die schlechten Regierungen denkst, solltest du Abgeordneter, Senator, Gouverneur oder noch so ein Depp werden wie sie.«

»Was ist los, Gevatter? Ich bin bloß Widerstand und Rebellion. Nun, ich werde sehen, wie ich es mache.«

Der mit dem Hut: »Nun gut, ich geh‘ dann jetzt, sonst werde ich nie meine Freundin finden. Wir sehen uns, Gevatter.«

Der Andere: »Geh‘ mit Gott, und wenn du deine Braut gefunden hast, frag sie, ob ihre Familie nicht Maiskolben hat, die sie mir borgen könnten und die ich später ersetzen werde.«

Der Geschichtenerzähler richtet sich an die Asamblea, die Vollversammlung: »Und somit: Was ist besser? Dass wir dem Gevatter Maiskolben leihen oder dass er Theorie und Praxis mit Wissen verbindet?«

-*-

Es kam die Stunde des Pozol. Die Versammlung geht aus einander. Aus reinem Trotz meint der SupGaleano beim Verlassen der Asamblea zum Subcomandante Moisés: »Und deshalb für mich: Nur Popcorn!« und bewegt sich dabei in Richtung seiner Holzhütte. Der Subcomandante Moisés dreht sich um: »Und was ist mit der scharfen Sauce?« Ohne Antwort ändert der SupGaleano seine Wegrichtung. »Wo gehst du denn jetzt hin?«, forscht ihm der SubMoy hinterher. Sich entfernend antwortet der SupGaleano fast schreiend: »Ich werde im kleinen Laden der Insurgentas bitten, ob sie mir die Sauce borgen können.«

Beglaubigt.
Miau-Wau.

Der Gato-Perro – bereits blinder Passagier auf der Montaña.
(Nun, bei ihm hat die Kohle nicht gereicht, außerdem gibt es ein Schild vor dem Zugang zur Montaña:
»Katzen, Hunde sind nicht erlaubt ... auch nicht schizophrene Käfer.«)


übersetzt von lisa-colectivo malíntzin

Anmerkungen der_die Übersetzer_in:
(1) Puy ta Cuxlejaltic: wörtlich übersetzt: Meeresschnecke unseres Lebens. Im November 2018 fand das gleichnamige, erste zapatistische Film-Festival im Caracol von Oventik statt.
(2) Pozol: Getränk aus Maismasse, Wasser und eine Prise Salz.
(3) Mit Tercios sind die Tercios Compas gemeint: die zapatistischen Medien-Kollektive
(4) El Violín (Mexiko 2005): ein Film von Francisco Vargas Quevedo