Zum Krieg in der Ukraine
Nach der Schlacht wird es keine Landschaft mehr geben
(Über die Invasion der russischen Armee in die Ukraine)

2. März 2022

An diejenigen, die die Erklärung für das Leben unterzeichnet haben
An die Sexta Nacional und Internacional


Compañer@s und Geschwister,

Wir übermitteln euch unsere Worte und Gedanken über das, was gegenwärtig innerhalb der Geographie, die Europa genannt wird, geschieht:

ERSTENS.- Es gibt eine angreifende Macht: die russische Armee. Auf beiden Seiten sind Interessen des großen Kapitals im Spiel. Wer jetzt leidet – durch die Irrsinnigkeiten der einen und durch die hinterlistigen ökonomischen Berechnungen der anderen – das sind die Bevölkerungen Russlands und der Ukraine (und vielleicht bald die Bevölkerungen der näher oder weiter gelegenen Geographien). Als Zapatistas, die wir sind, unterstützen wir weder den einen noch den anderen Staat, sondern diejenigen, die – für das Leben – gegen das System kämpfen.
Als die multinationale Invasion des Iraks, angeführt durch die US-amerikanische Armee, vor fast 19 Jahren [begann], gab es auf der ganzen Welt Mobilisierungen gegen diesen Krieg. Keine*r mit gesundem Menschenverstand dachte: Sich gegen den Krieg zu wenden, bedeute sich auf die Seite Sadam Husseins zu stellen. Jetzt gibt es eine ähnliche Situation, obzwar sie nicht gleich ist. Weder Selnskyj noch Putin. Stopp dem Krieg!

ZWEITENS.- Verschiedene Regierungen haben sich – aus wirtschaftlichem Kalkül – der einen oder der anderen Partei angeschlossen. Aber nicht aus humanisitschen Gründen. Für diese Regierungen und ihre »Ideologen« gibt es gute und schlechte Interventionen-Invasionen-Zerstörungen. Gut sind die, die von ihren Verbündeten durchgeführt werden; schlecht sind sie dann, wenn sie von der Gegenseite kommen. Der Applaus für Putins verbrecherische Begründung zur Rechtfertigung der militärischen Invasion in der Ukraine wird sich in eine Klage verwandeln, wenn mit den gleichen Worten die Invasion anderer Pueblos – deren Prozesse dem großen Kapital nicht wohlgefallen – gerechtfertigt wird.
Sie werden in andere Geographien eindringen, um sie vor »Neonazi-Tyrannei« zu retten oder um benachbarten »Narco-Staaten« ein Ende zu bereiten. Sie werden dabei die Worte Putins »Wir werden entnazifizieren« (oder etwas entsprechendes) wiederholen und sich ausführlichen »Begründungen« über die »Gefahr für ihre Bevölkerungen« widmen. Und somit, wie uns unsere Compañeras in Russland sagen: »Die russischen Bomben, die Raketen und Kugeln richten sich gegen die ukrainischen Menschen; und sie fragen nicht nach deren politischer Meinung oder nach der Sprache, die sie sprechen«; lediglich die »Nationalität« – der einen wie der anderen – wird eine andere sein.

DRITTENS.- Die großen Kapitale und ihre Regierungen des »Westens« hatten sich daran gewöhnt, zuzusehen, wie sich die Situation verschlimmerte – und sogar dazu zu ermuntern. Dann – nach dem Beginn der Invasion – warteten sie ab, ob die Ukraine Widerstand leisten würde und stellten ihre Berechnungen an, was sich aus dem einen oder anderen Resultat herausschlagen lassen könnte. Da die Ukraine widersteht, haben sie nun angefangen, Rechnungen für ihre »Hilfe« auszustellen, die erst später kassiert werden. Putin ist nicht der einzige, der vom ukrainischen Widerstand überrascht wurde.
Diejenigen, die diesen Krieg gewinnen werden, sind die großen Waffen-Konzerne und die großen Kapitale, die die Gelegenheit sehen, um Gebiete zu erobern, zu zerstören und wieder aufzubauen, d.h. neue Märkte für Waren- und Konsument*innen zu schaffen.

VIERTENS.- Anstatt auf das, was die Medien und die sozialen Netzwerke der jeweiligen Parteien verbreiten – und als »Nachrichten« präsentieren – oder auf die »Analysen« der plötzlich wuchernden Anzahl an geopolitischen Experten und Anhängern des Warschauer Paktes und der NATO zurückzugreifen – entschieden wir uns, diejenigen zu suchen und zu befragen, die sich wie wir [die zapatistischen Comunidades (1)] im Kampf für das Leben – innerhalb der Ukraine und Russlands – einsetzen.
Nach einigen Versuchen schaffte es die Comisión Sexta Zapatista, den Kontakt herzustellen zu unseren Gefährten in Widerstand und Rebellion innerhalb der Geographien, die Russland und Ukraine genannt werden.

FÜNFTENS.- Kurz gesagt: Unsere Gefährten, die außerdem die Fahne des libertären A hochhalten, verbleiben entschlossen: im Widerstand (diejenigen, die sich im Donbass, in der Ukraine befinden) und in Rebellion (diejenigen, die sich in Russland auf den Straßen und auf dem Land bewegen und arbeiten). Es gibt in Russland Verhaftete und Verprügelte, weil sie gegen den Krieg protestieren. Es gibt in der Ukraine von der russischen Armee Ermordete.
Es verbindet sie untereinander – und mit uns – nicht nur das NEIN zum Krieg, sondern auch die Ablehnung, sich Regierungen »anzuschließen«, die ihre Leute unterdrücken.
Inmitten der Verwirrung und des Chaos auf beiden Seiten halten sie ihre Überzeugungen aufrecht: ihren Kampf für die Freiheit, ihre Ablehnung von Grenzen und Nationalstaaten und den jeweiligen Unterdrückungen, die lediglich die Fahne wechseln.
Unsere Verpflichtung ist es, sie entsprechend unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Ein Wort, ein Bild, ein Lied, ein Tanz, eine erhobene Faust, eine Umarmung – sei es auch aus entfernten Geographien – stellen ebenfalls eine Unterstützung dar, die ihre Herzen ermutigen wird.
Zu widerstehen bedeutet, nicht locker zu lassen und sich durchzusetzen. Unterstützen wir unsere Gefährten in ihrem Widerstand, das heißt in ihrem Kampf für das Leben. Wir schulden es ihnen und wir schulden es uns selbst.

SECHSTENS.- Wegen dem zuvor Gesagten rufen wir die Sexta Nacional und Internacional dazu auf – die, die es bisher noch nicht getan haben – entsprechend ihren Kalendern, Geographien und Modi gegen den Krieg zu demonstrieren – in Unterstützung der Russ*innen und Ukrainer*innen, die innerhalb ihrer Geographien für eine Welt in Freiheit kämpfen.
Gleichfalls rufen wir dazu auf, den Widerstand in der Ukraine ökonomisch zu unterstützen – auf die entsprechenden Bankkonten, die sie uns zu gegebener Zeit übermitteln.
Die Comisión Sexta der EZLN wird ebenso versuchen, denjenigen, die in Russland und der Ukraine gegen den Krieg kämpfen, ein wenig Hilfe zu schicken. Auch wurden unsere Vertrauten in SLUMIL K ́AJXEMK ́OP kontaktiert, um einen ökonomischen Gemeinschaftsfonds in Unterstützung derjenigen, die in der Ukraine widerstehen, zu schaffen.
Ohne Falschheiten schreien wir heraus und rufen dazu auf, es herauszuschreien und zu fordern: Russische Armee, raus aus der Ukraine!

-*-

Der Krieg muss gestoppt werden. Wenn er anhält und – wie zu erwarten – eskaliert, wird es vielleicht niemanden geben, der von der Landschaft nach der Schlacht berichten könnte.


Aus den Bergen des mexikanischen Südostens,

Subcomandante Insurgente Moisés
SupGaleano
Comisión Sexta der EZLN


Anmerkungen der_die Übersetzer_in:

(1) Hier steht im Original: »nosotras« [ein »Wir« im Femininum]. Wie aus einem früheren EZLN-Kommuniqué bekannt ist, verwenden die Zapatistas ein Femininum, wenn sie als »[las] Comunidades Zapatistas« sprechen.