Über Erwartung und Veränderung


An alle UnterstützerInnen
der Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald
An alle TeilnehmerInnen des Treffens für NGO, Kollektive und Gruppen


Compañeros und Compañeras:

Dies sollten ursprünglich die Worte für den Abschluß des Treffens für NGOs, Kollektive und Gruppen sein, doch die Sitzung zog sich lange hin und am Ende waren einige schon gegangen. Aber ich habe versprochen, euch einen Brief zu schicken, also hier ist er:

Ich wollte damit beginnen, über die Intellektuellen zu schimpfen und zu wüten, die pro-AMLO und pro-"Für das kleinste Übel stimmen" sind, die ihre geistige Faulheit zur Schau stellend sich damit zufrieden geben, Sätze zurechtzustutzen und zu kopieren, um daraus "schlechte Vorträge" zu basteln (ich stelle mir vor, daß einige ihnen applaudieren). Oder jene, die uns nach langem Abschweifen schließlich erzählen, daß ihr Psychoanalyst und ihr Chefkoch Argentinier sind. Oder die versuchen, die drei Gesetze der akademischen Dialektik auf die "Andere Kampagne" anzuwenden: "Bittet mich um Vergebung", "Bittet mich um Erlaubnis", "Bittet mich um Anleitung" und (ich weiß, ich sagte, es wären drei, aber da es sich um Dialektik handelt, gibt es immer ein Viertes) "Bittet mich um Führung".

Das nachdem ich das mit dem "er wird uns allen den Todesstoß versetzen" korrigiert habe, das, wie niemand sich die Mühe gemacht hat zu bemerken, auf dem Treffen mit den linken politischen Organisationen gesagt wurde. Das heißt, AMLO wird den linken Organisationen den Todesstoß versetzen, nicht den Radio und TV- Ansagern, den Intellektuellen, Journalisten und Zeitungsredakteuren. Diesen wird er Zuschüsse, Positionen als Botschafter, Berater und Konsuln anbieten, oder irgendeine andere Form der teuersten Schmeichelei. Dann wollte ich noch weiterkorrigieren, daß "wir sie klein hacken werden", denn sie besitzen nicht einmal genug Konsistenz um sich in Stücke hacken zu lassen, also wollte ich statt dessen sagen "wir werden sie pulverisieren."

Aber wie ihr seht, tue ich das nicht, ich bin artig. Daher werde ich statt dessen lieber einige Reflektionen darüber teilen, was in den verschiedenen Präsentationen auf dem Treffen gesagt wurde.

Mal davon abgesehen, daß sie ständig auf dieser Sache mit meinem Bauch herumritten (mir können sie nichts vormachen, ich konnte mehr als nur einen lüsternen und lasziven Blick auf meiner appetitlichen Figur spüren), und etliche versteckte Anspielungen auf meinen "Pedro Infante reloaded" Still von Machismo gemacht wurden. Wir hörten ein gemeinsames Anliegen heraus: Respekt für die Autonomie und Unabhängigkeit der Gruppen und Organisationen. Mehr als ein Vortrag wies darauf hin, daß die "Andere Kampagne" nicht zu einer zentralisierten, hierarchischen Struktur verkommen sollte.

Es gab auch eine gewisse Tendenz dazu, den Spiegel zu suchen und zu hören. Das heißt, jeder hörte seinem Gleichen zu: Künstler den Künstlern, Feministen den Feministen, Anarchisten den Anarchisten, alternative Medien den alternativen Medien und so weiter. Geschichten über verschiedene oder gar gegensätzliche Realitäten weckten wenig Interesse. Als ob sogar in der versammelten Vielfalt jeder versuchte, sich an den Orten und der Form seines eigenen Kampfes einzuschließen.

Es ist verständlich, daß man sich zu gleichen gesellen möchte, und es ist verständlich, daß jeder seinen Platz in der Sexta und der "Anderen Kampagne" sieht. Letzten Endes ist das das Ziel der Sexta: an einem gemeinsamen Punkt, dem Antikapitalismus der Linken, einen Platz für alle zu öffnen.

Aber es ist mehr als das. Die Sexta und die "Andere Kampagne" sind auch Orte, um dem Verschiedenen im Gemeinsamen zuzuhören - dem, was sich gegen das gleiche System richtet, aber mit anderen Wegen und Mitteln.

Denn auch wenn man die vielen und vielfältigen Farben und Formen dieses Treffens betrachtet, ist das noch gar nichts im Vergleich mit der riesigen Palette der Verschiedenheiten, die die Sexta zusammengerufen hat und in die "Andere Kampagne" organisiert. Es gibt politische Organisationen, die sich dem Kampf und dem antikapitalistischen Widerstand Jahrzehnte lang verschrieben haben. Es gibt soziale Organisationen mit einer langen Geschichte des Kampfes und der Erfolge mit Forderungen nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen. Es gibt indigene Völker und Organisationen, die nicht nur Jahre, sondern Jahrhunderte des Widerstandes gegen Rassismus und des Kampfes um Respekt für ihre Kultur geführt haben. Es gibt Personen, Männer und Frauen, die innerhalb ihrer Familie, ihres Stadtviertels oder an ihrem Arbeitsplatz besorgt sind über das, was geschieht, und etwas tun wollen, um es zu verändern.

Auf der Versammlung werdet ihr die Gelegenheit haben, sie zu sehen und ihnen zuzuhören. Ihr werdet sehen, daß es viele andere anderen gibt, neben den anderen, die sich dieses Mal hier zusammengefunden haben. Männer und Frauen, die ihr ganzes Leben damit zugebracht haben, zu versuchen, das System zu verändern und dafür zu kämpfen.

Sie haben nicht nur einen artikulierten und kohärenten systemkritischen Diskurs, sondern auch alternative Vorschläge einzubringen. Und um diese umzusetzen, arbeiten sie mit Gewerkschaften, Nachbargruppen, Campesino- und Produzentengruppen, Kooperativen, Studenten- und Lehrergruppen, indigenen Völkern und Gemeinden. In einigen Fälle haben ihre Forderungen ein definiertes Ziel: bessere Lebens-, Gehalts-, oder Arbeitsbedingungen, Respekt für ihre Kultur, Umweltschutz. In andere Fälle sind diese Forderungen ein Mittel, um eine langsame, aber tiefgreifende Veränderung des Systems herbeizuführen. Und für andere ist die Verteidigung der Menschenrechte der Spiegel, in dem wir uns alle sehen. Denn letzten Endes ist die Forderung für den Respekt der Unterschiede, für die Anerkennung der Kultur, für bessere Lebensbedingungen, für freie Kunst, für alternative Information, nach der Gleichstellung der Geschlechter, für Freiheit, für Demokratie und für Gerechtigkeit nichts anderes als die Forderung nach dem Recht, menschliche Wesen zu sein.

Sie werden uns, die Neozapatisten, an der Seite ihrer individuellen, lokalen, regionalen und nationalen Kämpfe finden. Wir glauben, daß wir uns alle bemühen müssen, ihnen zuzuhören und sie zu respektieren. Denn ihr solltet verstehen, daß auch sie einen Platz in diesem riesigen "Wir" haben, das wir gemeinsam errichten möchten.

Aber zuhören und respektieren bedeutet nicht, sich unterzuordnen, gehorchen, schweigen. Sie haben Kritik erhoben und ihre Fahnen und Methoden hinterfragt: den Machismo, der sogar die Sprache durchdringt. Die großen Massenmedien, die sogar bestimmen, was wir trinken und wie wir es trinken. Die einseitige Methode, Kunst zu produzieren und zu zirkulieren. Die vielfachen Pyramiden von Befehlen und Gehorchen, die sich oberhalb ... und unterhalb der Linken wiederholen. Die Modetrends und Methoden, mit denen Andersartigkeit beeinflußt wird. Sie kritisierten die Ohren, die sich gegen die Wut des Volkes taub stellen.

Denn wenn eine antikapitalistische Bewegung nicht danach strebt, alles zu verändern, und nicht nur die Beziehungen zwischen Eigentum und Produktion, dann hat sie keinen Sinn - wenn wir nur die alten Ungerechtigkeiten wiederholen, aber mit einem neuen Alibi.

Wenn die Veränderung, die wir anstreben, nicht auch die radikale Veränderung der Geschlechterrollen zwischen Männern und Frauen mit einschließt, die Überbrückung der Generationslücke zwischen "Erwachsenen" und Jugendlichen, die Koexistenz zwischen Heterosexuellen und "alle auf ihre Weise"-Liebenden, dann wird diese Veränderung nur als eine weitere Karikatur unter den vielen enden, die das Buch der Geschichte so zahlreich füllen.

Jemand sagte hier, wenn wir bei dieser Revolution nicht tanzen können, dann ist das nicht unsere Revolution. Dem würde ich noch hinzufügen, daß wenn die Beziehungen zwischen den zahlreichen menschlichen Unterschieden sich nicht ändern, dann ist das nicht unsere Revolution. Und dann wird noch eine geführt werden müssen, und noch eine, und noch eine weitere, bis das "niemand", das wir sind, mit allen Farben, die wir sind, und mit allen Formen, die wir haben, zusammen erstrahlt.

Während ihr verstehen sollt, daß diese anderen, anders als ihr, einen Platz haben, sollten auch diese verstehen, daß ihr einen Platz in der Welt, in der Sexta und in der "anderen Kampagne" habt.

Auf dem Treffen mit indigenen Völker und indigenen Organisationen vor einigen Tagen versprachen wir, daß die Neozapatisten den Indígenas bei der Verteidigung ihrer Unterschiede und ihrer spezifischen Eigenschaft als Indígenas beistehen werden. Nun sagen wir euch, daß die EZLN und ihr Sexta-Komitee auch euch bei der Verteidigung eurer Autonomie und Unabhängigkeit beistehen werden, bei eurer Opposition gegen die Errichtung einer zentralisierten und hierarchischen Organisationsstruktur. Unsere Idee besteht nicht in einer, sondern aus vielen Organisationen, nicht aus einer, sondern allen Farben, die von unten und von links aus die Rebellion malen werden.

So wie wir den politischen Organisationen der Linken beistehen werden, die gegen den Kapitalismus kämpfen und eine neue soziale Beziehung mit den indigenen Völkern vorschlagen, die auf ihren Rechten und ihrer Kultur beharren, den sozialen Organisationen und Bewegungen, die bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen fordern.

Aber wir werden auch mit den Künstlern auf den Strassen oder aus kleinen unbekannten Orten sein, in den alternativen Medien, mit Hip-Hoppern, Rappern oder Skatern, Grufties oder etceteras, mit der Gang, mit Homosexuellen und Lesben, mit Transvestiten und Transsexuellen, mit Feministen, mit Organisationen für die Verteidigung der Menschenrechte und für die Befreiung der politischen Gefangenen, mit den Lebensarten der jungen Männer und Frauen, mit der Raza, mit Einzelpersonen, kurzum, mit allen, die sich der Sexta angeschlossen haben und die nun mit uns die "andere Kampagne" errichten.

Ich könnte damit enden, euch zu sagen, euch nicht kaufen oder vereinnahmen zu lassen, euren Raum und eure Arbeit zu verteidigen, aber ihr wisst sicher alle, daß der Geist der Sexta und der "Anderen Kampagne" darin bestehet, niemandem zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben, sondern zuzuhören, zu lernen und sich dem anzuschließen, was alle tun.

Und das war's. Gute Reise. Wir sehen uns am 16. September.

Das habe ich vergessen: Ich wollte euch auch noch wissen lassen, daß das nächste Vorbereitungstreffen für Frauen, Männer, Alte, Jungen und Mädchen, als Einzelpersonen, als Familien, als Gemeinden, Barrios und Stadtvierteln ist. Ankunft ist am Freitag, den 2. September, das Treffen findet am Samstag, den 3. statt, und Rückfahrt ist am Sonntag, dem 4. September. Das Treffen wird im Dorf Dolores Hidalgo stattfinden, auf dem Gebiet des Autonomen Zapatistischen Bezirkes in Rebellion San Manuel, Caracol von La Garrucha. Dolores Hidalgo ist das Dorf, in dem auch das Treffen mit den sozialen Organisationen und Bewegungen stattfand. Die Compañeros und Compañeras von Frayba werden euch Anweisungen geben, wie man hierher gelangen kann ohne verloren zu gehen, oder - wenn jemand danach fragt - wie man verloren gehen kann ohne hierher zu gelangen.

Kommt nicht zu spät, weil ich ein wenig erkältet bin, und, das möchte ich anmerken, entsetzt, meine sukkulente Taille zu verlieren.


für das Sexta-Komitee der EZLN
aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Subcomandante Insurgente Marcos