Eine kleine Geschichte über Señor Ik'
Eröffnungsrede des vierten Vorbereitungstreffens für die "Andere Kampagne"
im neuen Dorf Juan Diego, Chiapas



Dieser Teil des Landes, auf dem wir uns treffen, heißt heute Juan Diego Nuevo Poblado. Es gehört zum Autonomen Zapatistischen Bezirk in Rebellion Francisco Gómez. Aber es hieß nicht immer so. Früher war es eine Finca und hatte den Namen Santa Rita. Die Finca umfaßte etwa 6000 Hektar, und ihr letzter Besitzer war Señor Adolfo Nájera Domínguez aus Comitán, Chiapas, Mexiko. Vor langer Zeit arbeiteten die Großeltern und Eltern einiger unser zapatistischen Compañeros auf der früheren Santa Rita. Sie rodeten die Felder und schlugen die Pfosten für die Umzäunung des Landes ein. Sie erhielten sieben Pesos für einen Tag, der um sechs Uhr Morgens anfing und um sechs Uhr abends aufhörte. Zwölf Stunden Arbeit für sieben Pesos.

Vor 13 Jahren, als die Bewohner der Gemeinde von San Miguel fischen, Schnecken sammeln oder Feuerholz holen gehen wollten, wollte Adolfo, der Finquero sie nicht durchlassen. Um sie am Passieren zu hindern, setzte er seine Guardias Blancas ein, bewaffnete Viehtreiber, um die Indígenas zu bedrohen, die das Verbot nicht respektierten. Der Stacheldrahtzaun, an dem ihre Eltern und Großeltern 12 Stunden am Tag gearbeitet hatten, und die Waffen der Fincawächter hinderten die Einwohner von San Miguel daran, zum Fluß zu gehen und die Pfade und Wege zu benutzen, die durch die Finca führten. Weder sie noch ihre Tiere konnten auch nur einen Fuß auf einen der 6000 Hektar setzen.

Wenn ein Pferd oder ein anderes Haustier die Grenze überschritt, waren die Anordnungen an die Wachen eindeutig: Alles, was sich auf seinem Land befand, gehörte Adolfo. Und so wurden die Tiere gestohlen und irgendwo versteckt, bis der rechtmäßige Besitzer sich mit dem Verlust abgefunden hatte.

So war das damals: Die Indígenas hatten von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang (und zwar wörtlich) einen Zaun errichtet, der sie aussperrte. Weg vom guten Boden, von Modernität, von Gerechtigkeit.

Die Gemeinde von San Miguel hielt dann eine Versammlung ab und beschloss, um ein Gespräch mit Señor Adolfo Nájera zu ersuchen. Das Komitee schlug höflich vor, er möge der Bevölkerung von San Miguel den Zugang zum Fluß gestatten und die Tiere, die seine Finca durchquerten, nicht belästigen. Die Grenze, die San Miguel von Santa Rita trennte verläuft genau hier, etwa 200 Meter von dem Ort, an dem wir uns jetzt treffen. Der Finquero hatte kein Verständnis und schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Er verspottete sie, er mißhandelte sie, er bedrohte sie, und er verjagte sie. Am nächsten Tag ordnete er an, den Stacheldrahtzaun zu verstärken. Um das zu tun, heuerte er die Indígenas aus San Manuel selbst an - für 14 Pesos für 12 Stunden Arbeit am Tag. Mathematik ist nicht gerade meine Stärke, aber mir scheint, daß der Abstand zwischen Großeltern und Enkel, etwa 30 oder 40 Jahre und einen Unterschied von sieben Pesos beträgt. Ich kenne mich auch mit Wirtschaft nicht sehr gut aus, aber ich denke, das nennt man Ausbeutung.

Die Gemeinde traf sich wieder, und sie rechneten einiges aus: Auf der einen Seite stehen hunderte Indígenas mit ein paar Hektar schlechtem Land, felsig und abschüssig, auf dem man nicht einmal laufen konnte. Das Land der Indígenas war wie das, das ihr dort sehen könnt: ein Teil des Hügellands der Sierra von Corralchén. Auf der anderen Seite der Grenze stand eine einzige Person mit 6000 Hektar gutem Land, auf flachem, fruchtbaren Boden und mit gutem Wasser.

Sie sagten, daß die Vollversammlung der Gemeinde dann einiges ausrechneten: Kleines und schlechtes für viele auf der einen Seite, vieles und gutes für nur einen einzigen auf der anderen Seite. Und sie taten, was alle Campesinos tun: Sie ersuchten um Land. Und, wie die Lieder erzählen, Jahre vergingen mit dem Antrag auf Land. Ihre Komitees reisten zu allen Amtsstellen der Bundesregierung, reichten alle Arten von Papieren ein, kooperierten mit allen um Komitees überall hinzuschicken, obwohl sie sich das auch hätten sparen können. Ihr Antrag auf Land erhielt niemals Antwort.

Dann kam ein Mann, um mit einigen der Einwohner zu reden. Er war ein Indígena wie sie, von dunkler Hautfarbe wie sie, Tzeltal wie sie, Mexikaner wie sie. Sein Kriegsname war Hugo, aber er wurde Señor Ik' genannt, ein Wortspiel mit den zwei Bedeutungen des Wortes Ik', das auf Tzeltal sowohl "schwarz" als auch "Wind" bedeuten kann. Señor Ik's Name lautete in Wirklichkeit Francisco Gómez.
Mit seiner langsamen Sprechweise erklärte er ihnen was Ausbeutung bedeutete, Verachtung, Repression. Er sprach von Rebellion und von Organisation. "Es gibt da ein Wort", erzählte ihnen Señor Ik', "Zapatista, und es bedeutet, daß das Land denjenigen gehört, die es bearbeiten, und daß wir uns organisieren sollten, um für unsere Freiheit als Campesinos, als Indígenas und als Mexikaner zu kämpfen, die wir sind." Es war wahrscheinlich schon Abend. Das, worüber Señor Ik' sprach, war geheim, und es mußte gehütet werden.

Deshalb marschierte Señor Ik' nachts, sprach nachts, erschien nachts. Jene, die ihn in dieser Nacht hörten - als der Morgen die Dunkelheit der Nacht noch nicht einmal berührte - sagten, sie wären einverstanden. Señor Ik' machte sich wieder auf, und ein Compañero gab ihm etwas Pozol und fragte ihn: "Und wie wird unsere Organisation genannt?" Señor Ik' verstaute den Pozol in seinem kleinen Rucksack und antwortete ihm: "Wir nennen uns die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung."

Señor Ik' ging weg. Er marschierte durch andere Nächte, erschien in anderen Dörfern und andere Morgengrauen fanden ihn bei Gesprächen mit Indígenas in dieser Gegend. Zunächst nur wenige, dann Dutzende, dann ganze Dörfer, Regionen. Aber es war nicht immer so. Der Moment kam, als Señor Ik' nicht mehr redete, sondern statt dessen zuhörte. Er hörte der Empörung und der Wut zu. Er hatte sie schon früher gehört, aber nun war es anders: Die Wut und Empörung waren kollektiv organisiert.

Señor Ik' hörte zu und marschierte wieder durch die Nacht, und an einem anderen Morgen stand er in unsere Baracken vor mir, mit einer Tasse Kaffee ohne Zucker, nicht, weil er das so mochte, sondern weil wir keinen hatten. Señor Ik' begann seine Rede mit einem Bericht über seine letzte Reise durch Dörfer und Versammlungen. Es war kein Bericht darüber, was er gesagt, sondern darüber was er gesehen und gehört hatte. Er hörte auf. Wir schwiegen.
Señor Ik' fing an zu erzählen, scheinbar zusammenhangslos, von einem anderen Morgen, vor vielen Jahren als wir uns gerade getroffen hatten und nahe an seinem Dorf lagerten. Damals hatte ich ihm die Geschichte von Ulysses' Kampf gegen den einäugigen Riesen Polyphem erzählt. Señor Ik' hatte entzückt gelacht, als ich den Teil erzählte, in dem Ulysses sagt, er sei "niemand" und den Zyklopen besiegt. Señor Ik erzählte die Geschichte auf seine eigene Weise, und so erzählte er sie auch mir wieder. Plötzlich wurde er still und zündete eine Zigarette mit einem Stöckchen an, den er im Ofen angezündet hatte. Er hielt den brennenden Zweig eine Weile in der Hand, dann sah er mir in die Augen und sagte: "Oi, Compañero Subcomandante, deshalb glaube ich, daß jetzt die Stunde der Niemande beginnt."

Wie Señor Ik' gab es damals Dutzende Compañeros, natürliche Anführer ihrer Gemeinden und Regionen, die das gleiche taten wie er und das gleiche erzählten wie er: "Jetzt beginnt die Stunde der Niemande". Es war das Jahr 1992. Dann hielten wir die Consulta ab. Es wurde für Krieg gestimmt.

1993 bereiteten wir uns vor. Und so wurde es Mai, der 23. Mai. Dort oben in der Sierra, die ihr von hier aus sehen könnt, hatten wir eine Baracke für Aufständische. Sie hieß El Calabazas. Eine Kolumne von Bundessoldaten war in das Tal eingedrungen und von ihrer Basis in La Garrucha aus begaben sie sich in die Sierra. Unsere Truppen und die Federales trafen aufeinander. Nach einigen Kämpfen zogen sich unsere Truppen zurück und wurden von den Einwohnern von San Miguel aufgenommen und von ihnen in eine sichere Gegend geführt.

Die gesamte EZLN zog sich dann zurück. Unserer Meinung nach sollten wir entscheiden, wann der Aufstand begann, nicht der Feind. Wir hatten vor langer Zeit gelernt, daß wir uns niemals den Zeitbegriffen der Mächtigen unterwerfen durften, statt dessen sollten wir unserem eigenen Kalender folgen und ihn den Oberen aufzwingen. So haben wir es seitdem immer gemacht. Deshalb sind sie an unserer Art auch so verzweifelt.

Am ersten Januar 1994, es war bereits Tag und die Kolumnen der EZLN-Kämpfer bewegten sich auf der Autobahn nach Ocosingo. Mehr als 1200 Männer und Frauen des Dritten Regiments der Zapatistischen Infanterie, mit anderen vom Fünften Regiment, kamen durch diese und andere Ländereien der Selva Lacandona. Sie nahmen den Wachen der Finqueros die Waffen ab und benutzten sie, um die Bezirkshauptstadt zu besetzten. Nach mehreren Tagen der Gefechte auf dem Marktplatz von Ocosingo gegen die Lufttransporttruppen der Bundesarmee zogen sich die zapatistischen Truppen zurück.

Danach folgte, was folgte, und die meisten von euch wissen es, weil ihr darin die Hauptrolle spielt.

Alle Fincas in der Region wurden befreit, und 1995 wurden ihre Ländereien von der Landwirtschaftlichen Kommission des Autonomen Zapatistischen Bezirks in Rebellion (MAREZ) Francisco Gómez neu verteilt. Ohne irgendeine Erlaubnis einzuholen, rissen die zapatistische Indígenas den Zaun um die Santa Rita Finca ein, und das Land wurde unter den Bewohnern von San Miguel und dem Dorf Ach' Lumal verteilt, das bedeutetet "Neues Land".

Dann trafen sich die Compañeros wieder, und sie rechneten wieder etwas aus, aber nicht in Hektar sondern in Tod. Im Kampf um Ocosingo am 2. Januar 1994 wurde ein Compañero Milizsoldat aus San Miguel im Gefecht getötet. Sein Kriegsname war Juan. In der Gemeinde Nueva Estrella wurde während Zedillos Verrat im Februar 1995 ein weiterer Compañero Milizsoldat von der Bundesarmee ermordet. Sein Kriegsname war Diego. Die Compañeros dachten, rechneten, erinnerten sich. Das neue Dorf nahm darauf den Namen "Juan Diego" an.
Sie nannten sich nicht nach dem Tod, sondern nach dem Kampf.

Subcomandante Marcos