Comunicado der EZLN
Zehnter Teil: Über Pyramiden und ihren Gebrauch.
Schlussfolgerungen aus der kritischen Analyse der Zapatistischen Autonomen Rebellischen Landkreise sowie der Räte der Guten Regierung
(Fragmente eines Interviews mit dem SubComandante Insurgente Moisés, August – Sepember 2023, in den Bergen des Südosten Mexikos)

14. November 2023

Einleitung.-

Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon, wer baute es so viele Male auf?
In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, als die chinesische Mauer fertig war, die Maurer?
Das große Rom ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie?

Bertolt Brecht
[aus: Fragen eines lesenden Arbeiters]

Bekannt ist die Obsession der herrschenden Systeme, im Laufe ihrer Geschichte das Bild der besiegten herrschenden Klassen oder Kasten zu retten. Als ob den Sieger die Sorge bewege, das Bild des Besiegten zu neutralisieren: seinen Untergang zu ignorieren. Beim Studium der Überreste der besiegten Zivilisationen oder Kulturen konzentriert man sich oft auf die großen Herrscher-Paläste, die religiösen Bauten der klerikalen Hierarchie oder auf Statuen oder Denkmäler, mit denen die damalig Herrschenden sich selbst abbildeten.

Nicht immer studiert man aus wahrem anthropologischen oder archäologischen (was nicht dasselbe ist) Interesse beispielsweise die Pyramiden: deren architektonisch-religiöse – und manchmal auch wissenschaftliche – Bedeutung, was in Touristik-Flyern (und in den politischen Programmen jeglichen Spektrums) als »Glanz der Vergangenheit« benannt wird.

Es ist üblich, dass die verschiedenen Regierungen ihren Blick auf Könige und Königinnen richten, sich darauf konzentrieren, nicht ohne sehnsüchtige Seufzer. Die großen Paläste und Pyramiden können als Zeichen des wissenschaftlichen Fortschritts jener Epoche, ihrer gesellschaftlichen Organisierung sowie der Ursachen »ihrer Entwicklung und ihres Niedergangs« betrachtet werden – jedoch keinem Regierenden gefällt es, seine Zukunft in der Vergangenheit widergespiegelt zu sehen. Deshalb drehen sie an der Geschichte, die vergangen ist – und es wird möglich, Gründungen von Städten, Imperien, »Transformationen« neu auf die Agenda zu setzen. Derart, ohne es zu merken, verbirgt jedes Selfie, das sie innerhalb der archäologischen Stätten machen, mehr als es zeigt: Der heutige Sieger, dort oben, wird der Besiegte von morgen sein.

Aber wenn schon nicht gesagt wird, dass diese Bauten denen gehören sollten, die sie entworfen haben - den Architekten, Ingenieuren und Künstler*innen –, noch weniger wird »die arbeitende Hand« erwähnt, das heißt, die Frauen und Männer, auf deren Rücken (in mehr als einem Sinne) diese Wunder errichtet wurden, die Touristen aus aller Welt Schatten spenden, während sie bereits zur nächsten Kneipe, zum Einkaufzentrum oder an den Strand eilen.

Von daher ist es nur folgerichtig, die Nachkommen dieser »arbeitenden Hand« zu ignorieren, welche weiterhin und gegenwärtig – mit ihrer eigenen Muttersprache und Kultur – leben. Die [Pueblos] Originarios, die beispielsweise die Pyramiden von Teotihuacán oder die der Maya-Zone im Südosten Mexikos errichtet haben, existieren; das heißt, sie widerstehen – und manchmal fügen sie ihrem Widerstand jene subversive Komponente der Rebellion hinzu.

Im Falle von Mexiko bevorzugen die verschiedenen Regierungen, die Originarios als lebendes Kunsthandwerk [zu betrachten] oder als manchmal passende Choreographie. Die gegenwärtige Regierung repräsentiert da keinen Wandel (nun gut, nicht nur in dem, aber das ist jetzt nicht Thema). Die Pueblos originarios sind weiterhin das Objekt von Almosen (diese Kopfschmerz-Tablette für die Schamlosen), werden zu den Wahlen hingekarrt, sind von kunsthandwerklichem Interesse, Fluchtpunkt derjenigen, welche die laufende Zerstörung verwalten: »Ich werde dein Leben zerstören, das heißt, dein Gebiet. Jedoch sorge dich nicht: Die Pyramiden derer, die deine Vorfahren ausgebeutet haben – sowie deine lächerliche Sprache, Kleidung, Lebensweise – werde ich konservieren.«

Nach alldem zuvor Gesagten wird dieses »Bild« der Pyramide nun vom Subcomandante Insurgente Moisés dazu genutzt, uns etwas von dem zu erklären, was die (nach meinem Verständnis, harte und unerbittliche) Analyse der Arbeit der MAREZ und JBG darstellt:

Der Capitán

Etwas Geschichte – nicht viel – lediglich die von 30 Jahren.

Die Zapatistischen Autonomen Rebellischen Landkreise, MAREZ, und die Räte der Guten Regierungen, JBG, waren nicht vollkommen schlecht. Es muss daran erinnert werden, wie wir darauf gekommen sind. Für die zapatistischen Pueblos waren sie wie eine Schule der politischen Alphabetisierung: eine Selbst-Alphabetisierung.

Die Mehrheit von uns konnte nicht lesen, schreiben oder spanisch sprechen. Auch sprechen wir unterschiedliche Muttersprachen. Es war gut, weil somit unsere Idee und Praxis nicht von außerhalb kam, sondern wir mussten in unseren Köpfen, innerhalb unserer Geschichte als Indígenas, nun, innerhalb unserer Lebensweise suchen.

Niemals hatten wir die Möglichkeit gehabt, uns selbst zur regieren. Immer wurden wir regiert. Noch vor den Spaniern unterdrückte das Imperium der Azteca – welches die jetzigen Regierung so sehr liebt, ich glaube, weil ihnen dieses Herrschsüchtige gefällt – viele Sprachen und Kulturen. Nicht nur innerhalb dessen, was jetzt Mexiko ist, sondern auch innerhalb dessen, was heute Zentralamerika ist.

Die Situation, in der wir uns befanden, war die des Todes und der Verzweiflung. Sie verschlossen uns alles. Es gab keine Türen, Fenster, keinerlei Ritzen. So als wollten sie, dass wir ersticken. Nun, somit mussten wir, wie gesagt wird, eine Spalte in diese Mauer schlagen, welche uns eingeschlossen und verdammt hatte. Als ob alles Finsternis wäre und wir mit unserem Blut ein kleines Licht entzünden würden. Das war der zapatistische Aufstand, ein kleines Licht in der finstersten Nacht.

Danach kam: Viele Leute forderten einen Waffenstillstand, es muss gesprochen werden. Nun, von dem wissen die Städtebewohner*innen [mehr zu erzählen]. Vielen von ihnen war das Gleiche passiert wie uns: Die schlechten Regierungen halten ihre Versprechen niemals. Sie halten sie deswegen nicht ein, weil sie die hauptsächlichen Unterdrücker sind. Somit mussten wir wählen: Darauf warten, dass die schlechten Regierungen [ihr Wort] eines Tages einhalten – oder bei uns selbst suchen. Und wir wählten, unseren eigenen Weg zu suchen.

Nun gut, dafür mussten wir uns organisieren. Also organisierten wir uns und bereiteten uns 10 Jahre lang darauf vor, uns in Waffen zu erheben; nun, um zu sterben und zu töten. Und dann stellte sich heraus, dass wir uns organisieren müssen, um zu leben. Und zu leben bedeutet Freiheit. Und Gerechtigkeit. Und uns selbst als Pueblos zu regieren – und nicht wie kleine Kinder als welche uns die Regierungen betrachten.

Dort war es, dass uns in den Kopf kam: Wir müssen eine Regierung umsetzen, die gehorcht; das heißt, die nicht macht, was sie will, sondern das erfüllt, was die Pueblos sagen. Das heißt: »Gehorchend regieren« – ein Ausdruck, der jetzt von den gegenwärtig Schamlosen plagiiert wird (das heißt, sie plagiieren nicht nur ihre Doktorarbeiten. Anmerkung der Redaktion).

Somit haben wir mit den autonomen Landkreisen gelernt, dass wir uns selbst regieren können. Und dies war möglich, weil uns viele Menschen selbstlos dabei unterstützten, den Weg des Lebens zu finden. Das heißt: Diese Leute sind nicht gekommen, um zu gucken, was sie herausziehen können – nicht wie diejenigen, von denen du, wie ich mir vorstelle, erzählen wirst, wenn du zu denen von außerhalb über die 30 Jahre sprichst. Nein, diese Leute verpflichteten sich wirklich selbst einem Projekt des Lebens. Ja, es gab auch welche, die uns sagen wollten, wie wir es tun sollten. Jedoch haben wir ja uns nicht in Waffen erhoben, um den Herrn, den Patrón auszuwechseln. Es gibt keinen guten Herrn. Es gab jedoch andere, die unser Denken, unsere Art und Weise respektierten.


Der Wert des Wortes

Wenn wir diese Unterstützung erhalten, dann ist das wie eine Selbstverpflichtung, die wir eingehen. Wenn wir sagen, wir brauchen Unterstützung, um Schulen oder Klinken zu errichten, um Gesundheits- und Bildungsbeauftragte auszubilden – um Beispiele zu geben – nun, dann müssen wir das auch einhalten. Das heißt, wir können nicht sagen: Das ist für die eine Sache – und es dann für etwas anderes verwenden. Wir mussten und müssen ehrlich sein, denn diese Leute kommen nicht, um uns auszubeuten, sondern um uns zu ermutigen. So sehen wir das.

Somit nun müssen wir die Angriffe und Schweinereien der schlechten Regierungen, der Großgrundbesitzer und großen Unternehmen durchstehen, die – heftig, heftig – dabei sind, uns auf die Probe zu stellen: Ob wir das durchhalten oder leicht einer Provokation verfallen, um uns dann beschuldigen zu können, wir würden lügen und wir wollten ebenso die Macht und die Penunzen. Und das mit der Macht, nun, das ist wie eine Krankheit, welche die guten Ideen abtötet und korrumpiert; das heißt, als ob jene die Leute krank macht. Und hier hast du eine*n, der*die ein guter Mensch zu sein scheint, tja, und dann mit der Macht wird sie*er vollkommen verrückt. Oder er*sie war bereits verrückt, da die Macht ihr*ihm das Herz herausgezogen hatte.

Wir dachten, nun, wir müssen beispielsweise unsere Gesundheitsversorgung organisieren. Denn wir sahen und sehen klar, das, was die Regierung da tut, ist eine Riesen-Lüge. Da geht es nur darum zu rauben, und und es ist ihnen egal, ob da Leute sterben, vor allem wenn es Indigene sind.

Und es geschah – als wir diesen Spalt in das System hineinschlugen und dort den Kopf hindurch streckten – dass wir vieles sahen. Gleichzeitig sahen uns viele. Und unter diesen Leuten war eine*r, der*die uns anschaute und es riskierte, zu helfen und zu unterstützen. Denn vielleicht lügen wir ja und wir tun nicht, was wir sagen. Aber gut, sie riskierten es und wir, nun, wir verpflichteten uns selbst.

Schau mal, da draußen in den Städten ist das Wort nichts wert. Sie können dort in einem Moment das eine sagen und eine Minute später das Gegenteil davon – und so als ob nichts wäre, bleiben sie dabei ruhig. Da gibt es zum Beispiel das, was sie »Morgendliche Pressekonferenz« [des mexikanischen Präsidenten] nennen: An einem Tag wird dort dies gesagt, am nächsten Tag das Gegenteil. Jedoch, weil es sich bezahlt macht, wird dort applaudiert und zwar erfreut, denn sie erhalten einige Almosen. Diese Kohle kommt noch nicht einmal aus ihrer [eigenen] Arbeit, sondern aus dem, was die arbeitenden Leute den Regierungen als Steuern zahlen – die so was wie die »Schutzgelder« des Desorganisierten Verbrechens darstellen.

Also, diese Leute haben uns unterstützt und so begann es nach und nach mit der vorsorgenden Medizin. Da wir bereits Land wieder zurückgewonnen hatten, verbesserten wir unsere Ernährung, jedoch wurde noch mehr gebraucht. Nun, somit: der Bereich der Gesundheitsversorgung. Es musste das Wissen der Pflanzenheilkunde wiedererlangt werden, aber die reichte nicht aus; nun, es wurde auch die Wissenschaft, die Schulmedizin gebraucht. Und dank den Ärzten und Ärztinnen – dazu sagen wir »Geschwisterlichkeit«, weil sie wie unsere Geschwister sind – die sich zur Verfügung stellten und uns beraten und gezeigt haben. Nun, somit wurden die ersten Ausbilder in Gesundheit geschult; das heißt, diejenigen, die die Gesundheitsbeauftragten ausbilden.

Ja, und auch die Bildung, vor allem das Castilla [das Spanische]. Denn für uns ist die spanische Sprache sehr wichtig, weil sie wie eine Brücke ist, auf der wir miteinander kommunizieren und uns verstehen können – die wir verschiedene Muttersprachen haben. Beispielsweise: Wenn du Tseltal sprichst, dann wirst du dich damit herumschlagen, dich in Cho‘ol auszudrücken, oder in Tsotsil, Tojolabal, Zoque, Mame oder Quiché. Somit muss spanisch gelernt werden. Und die autonomen Schulen sind dazu sehr wichtig. Unsere Generation zum Beispiel spricht eine Kombination aus Lengua [indigene Sprache] und spanisch; das heißt, sie spricht es nicht gut; heißt, wir sprechen schief und krumm. Es gibt jedoch Generationen von Jugendlichen, die in autonomen Schulen gelernt haben, und die Castilla besser können als irgendwelche Städtebewohner*innen. Der verstorbene SupMarcos meinte: Diese Jugendlichen könnten die Arbeiten von Universitätsstudenten korrigieren. Du weißt, dass wir [wegen der Sprachschwierigkeiten] früher zur Comandancia gehen mussten, wenn wir eine Denuncia [öffentliche Anklage] schreiben wollten. Jedoch später dann nicht mehr. Denn in jeder autonomen Instanz gab es jetzt eine*n Schriftführer*in, und somit gelang es gut.

Nun, dann war es so, als ob jedes Vorankommen das ihm folgende anschob. Und nach kurzer Zeit wollten diese Jugendlichen mehr und noch mehr lernen. Daraufhin organisierten wir unsere Gesundheitsversorgung in jedem Dorf, jeder Region, jeder Zone. Wir kommen voran in jedem Gesundheitsbereich: u.a. Hebammenkunde, Pflanzenheilkunde, Knochenheilkunde, Laboratorium, Zahnheilkunde, Ultraschall-Untersuchungen, und es gibt Kliniken. Und gleichfalls mit der Schule, das heißt, mit der Bildung. Schule, sagen wir dazu, denn Bildung fehlt auch den Erwachsenen. Bildung ist bei uns sehr weit gefasst, sie ist nicht nur die der Kinder und Jugendlichen.

Außerdem organisieren wir die produktive Arbeit, denn jetzt haben wir Land, welches zuvor in der Hand der Großgrundbesitzer war. Und so bearbeiten wir als Familien und im Kollektiv die Milpa [den Mais-Bohnen-Kürbis-Anbau], das Bohnenfeld, die Kaffee- und Gemüse-Pflanzungen, machen Geflügelaufzucht. Und etwas Rinderzucht, was eher bei ökonomischer Dringlichkeit oder für die Feste genutzt wird. Die kollektive Arbeit schuf die ökonomische Unabhängigkeit der Compañeras und dies brachte noch viele Dinge mehr. Über das jedoch haben sie bereits selbst gesprochen.

Eine Schule

Mit anderen Worten: Wir haben gelernt, uns selbst zu regieren – und so konnten wir die schlechten Regierungen beiseite lassen, und auch die Organisationen, die angeblich Link-isten, Progress-isten und was nicht noch alles sind. 30 Jahre lernend, was es bedeutet, autonom zu sein; das heißt: Wir haben uns selbst geführt, selbst regiert. Das war nicht einfach, denn keiner Regierung – ob aus PRI-, PAN-, PRD-, PT-, Grünen oder MORENA-Partei – verging die Lust, uns zerstören zu wollen. Deshalb sagt die jetzige Regierung, genau wie die früheren Regierungen, wir seien verschwunden oder seien geflohen oder hätten große Niederlagen erlitten, oder es gäbe gar keine Zapatistas mehr und wir seien in die USA oder nach Guatemala abgehauen. Jedoch, nun schau mal: Hier sind wir. In Widerstand und Rebellion.

Das Wichtigste, was wir innerhalb der MAREZ gelernt haben, ist: Die Autonomie besteht nicht aus Theorie, Bücher schreiben und Reden halten. Sie besteht darin, sie zu machen. Und wir müssen dies als Pueblos tun und nicht darauf warten, dass jemand kommt, um es für uns zu tun.

Das alles ist, sagen wir, das Gute der MAREZ, der autonomen Landkreise: eine Schule der praktischen Autonomie.

Und die Räte der Guten Regierung waren auch sehr wichtig, denn mit ihnen haben wir gelernt, unsere Ideen des Kampfes mit den Geschwistern Mexikos und der Welt auszutauschen – wobei wir das Gute, das wir sahen, aufgegriffen haben, und was nicht gut war, haben wir verworfen. Einige meinten, wir müssten dem gehorchen, was sie sagten. Worin sollte das bestehen? Da wir unser Leben eingesetzt haben. Das heißt, das ist, was wir abwägen und wertschätzen: unser Blut, und das der vorherigen Generationen und derer, die folgen werden. Wir sind nicht dazu da, dass eine*r ankommt, uns zu sagen, was wir zu tun haben, auch wenn er*sie sich für sehr weise hält. Mit den Räten der Guten Regierung haben wir gelernt, uns zu treffen und zu organisieren, zu denken, Meinungen zu äußern, vorzuschlagen, zu diskutieren, zu studieren, zu analysieren und zu entscheiden – für uns selbst.

Das heißt zusammengefasst: Ich sage dir, die MAREZ, die autonomen Landkreise und die JBG, die Räte der Guten Regierung haben dazu gedient, damit wir lernen: Theorie ohne Praxis bedeutet nur hohle Worte. Und mit Praxis ohne Theorie läufst du wie blind herum. Und da es – als wir anfingen zu handeln – keine Theorie, kein Handbuch, kein Buch dazu gab, mussten wir unsere eigene Theorie schaffen. Stolpernd setzten wir Theorie und Praxis um. Ich glaube, deshalb mögen uns die Theoretiker und revolutionären Avantgarden nicht besonders, denn wir haben ihnen nicht nur die Lohnarbeit versaut. Wir haben ihnen auch gezeigt, eine Sache ist das Geschwafel, etwas anderes bedeutet die Realität. Und hier sind wir – die Ignoranten und Zurückgebliebenen, wie sie zu uns sagen – die wir den Weg nicht finden können, weil wir Kleinbauern sind. Aber hier sind wir, auch wenn sie uns leugnen, wir existieren. Zweifellos.

Die Pyramide

Nun gut, jetzt mit dem Schlechten weiter. Oder mehr als schlecht: Denn es hat sich bereits gezeigt, dass es bei dem, was kommen wird, nicht hilfreich sein wird. Und zusätzlich noch die Fehler, klar. Wie du mir gesagt hast, werden wir später erzählen, wie das alles angefangen hat, also, wie es in unsere Köpfe gelangt ist. Das sehen wir dann noch.

Das Hauptproblem besteht jedoch in der verflixten Pyramide. Die Pyramide trennte die Verantwortlichen, die Autoridades, von den Dörfern, den Pueblos; Pueblos und Verantwortliche entfernten sich voneinander. Die Vorschläge der Verantwortlichen gelangten nicht nach unten zu den Pueblos [als Basis], wie auch die Meinungen der Pueblos nicht die Verantwortlichen erreichten.

Wegen der Pyramide wurden viele Informationen, Orientierungen, Anregungen, Vorschläge und unterstützende Ideen der Compañeras und Compañeros des CCRI (*1) verkürzt und abgeschnitten. Das passierte den Räten der Guten Regierungen und ebenso den Verantwortlichen der zapatistischen autonomen rebellischen Landkreise [MAREZ] und es wiederholte sich, wenn die autonomen Landkreisräte die Versammlung der Verantwortlichen der Dörfer informierte. Und noch einmal bei den Verantwortlichen der Pueblos, wenn sie es in jedem Dorf erklärten. Viel Informationsverkürzungen oder Interpretationen oder Hinzufügungen, die sich ursprünglich [in den Original-Infos] nicht befunden hatten.

Auch die Ausbildung der [autonomen] Autoritäten bedurfte großer Anstrengungen: Alle drei Jahre gingen die einen und neue begannen, die jedoch an der Basis, in den Dorfgemeinschaften nicht darauf vorbereitet wurden. Die Ablöse wurde also nicht ausgebildet. »Kollektive der Regierung«, so haben wir es genannt, aber nicht vollständig umgesetzt. Nur selten gelang es, oftmals scheiterten wir – sowohl in den Räten der Guten Regierung wie in den autonomen Landkreisen.

Immer öfter tauchte der Wunsch bei einigen Verantwortlichen auf, die Tätigkeiten und Entscheidungen als MAREZ und Räte der Guten Regierung zu übernehmen. Sie wollten die sieben Prinzipien des Gehorchend Regierens außer Acht lassen.

Es gab auch NGOs, welche mit aller Macht wollten, dass ihre Projekte, die sie an die Räte der Guten Regierung und autonomen Landkreise herangetragen hatten, angenommen werden – Projekte, die jedoch nicht das waren, was die Pueblos brauchten. Und Personen, die zu Besuch kamen, verblieben wie Freunde oder Freundinnen einer [einzigen] Familie oder eines [einzelnen] Dorfes; und nur an jene schickten sie irgendeine Unterstützung. Und einige Besuchenden wollten uns durchaus führen und behandelten uns wie ihre Bediensteten. Nun, mit viel Liebenswürdigkeit mussten wir sie dann daran erinnern, dass wir Zapatistas sind.

Auch gab es in einigen autonomen Landkreisen und Räten der Guten Regierung eine schlechte Handhabung der Ressourcen der Pueblos; natürlich wurden sie dafür sanktioniert.

Das heißt zusammengefasst, wir sahen, dass diese pyramidenförmige Struktur, mit der wir uns regierten, nicht der Weg war. Es war nicht von unter her, sondern von oben aus.

Wenn der Zapatismus lediglich die EZLN [die militärische Selbstverteidigungsstruktur] wäre, nun, dann wäre es einfach, Anordnungen zu geben. Die Regierung muss jedoch zivil und nicht militärisch bestimmt sein. Somit muss die Dorfgemeinschaft selbst ihren Weg, ihren Modus, ihre Zeiten suchen. Wo und wann und welche Sache. Das Militärische darf lediglich für die Verteidigung sein. Eine Pyramiden-Struktur kann vielleicht dem Militärischen dienlich sein, jedoch nicht dem Zivilen. Das ist das, was wir sehen.

Bei anderer Gelegenheit werden wir euch erzählen, wie die Situation hier in Chiapas ist. Für jetzt sagen wir euch nur: Sie ist wie überall. Sie ist schlimmer als in den vorherigen Jahren. Jetzt töten sie sich innerhalb ihrer Häuser, Straßen, Dörfer. Und es gibt keinerlei Regierung, die die Forderungen der Pueblos sieht und hört. Und sie tun nichts, denn sie selbst sind die Verbrecher.

Nicht nur das. Wir haben ja bereits gesagt, dass viel kommendes und bereits bestehendes Unheil zu sehen ist. Wenn du siehst, dass es regnen wird oder bereits die ersten Regentropfen fallen, und der Himmel ist verdunkelt wie die Seele eines Politikers, ziehst du deinen Regenschutz aus Plastik hervor und suchst einen Ort, wo du dich unterstellen kannst. Das Problem ist [jetzt], es gibt keinen Ort, wo du dich schützen kannst. Du musst deinen eigenen Schutzort schaffen.

Der Punkt ist, wir sahen: Mit den MAREZ und Räten der Guten Regierung wird es nicht möglich sein, sich dem Sturm entgegenzustellen. Wir brauchen, dass Dení heranwachsen und leben kann [siehe Dritten Teil der Kommuniqué-Serie] – und dass all die kommenden sieben Generationen entstehen und leben können.

– Wegen alldem und anderem begannen wir eine lange Folge von Reflexionen und kamen zu der Schlussfolgerung: Uns bleibt nur eine große Diskussion aller Pueblos und eine Analyse, in welcher Form die neue und schlimme Situation zu konfrontieren ist – und zur gleichen Zeit: Wie werden wir weitermachen, uns selbst zu regieren? Es wurden Versammlungen und Vollversammlungen, Zone für Zone, durchgeführt bis hin zu der Übereinkunft, dass es weder Räte der Guten Regierungen noch zapatistische autonome rebellische Landkreise weiterhin geben wird. Und wir eine neue Struktur brauchen, das heißt, uns in anderer Form neu aufstellen müssen.

Klar, dieser Vorschlag besteht nicht nur darin, sich neu zu organisieren, sich zu reorganisieren. Er ist auch eine neue Initiative. Eine neue Herausforderung. Jedoch ich glaube, wir werden euch davon erst später sprechen.

Somit, allgemein und ohne viel Brimborium: Die MAREZ und Räte der Guten Regierung waren sehr nützlich – in jener Etappe. Jetzt erfolgt jedoch ein nächster Schritt, denn diese alten Kleider sind uns bereits zu kurz geraten, sind verschlissen, sie reißen auch dann, wenn du sie ausbesserst, vergeblich. Denn es wird der Moment kommen, wo sie nur noch aus Stofffetzen bestehen.

Nun also, was wir taten, war, die Pyramide umzustürzen. Wir rammten sie an der Spitze. Oder besser ausgedrückt: Da wir sie umdrehten, haben wir sie auf den Kopf gestellt.

Die Vergangenheit oder die Zukunft feiern?

Wir müssen weiter gehen und dies bei vollem Sturm. Als Pueblos jedoch sind wir bereits damit vertraut – mit allem gegen uns – weiter zu gehen.

Kommenden Dezember und Januar werden wir nicht die 30 Jahre Aufstand feiern. Für uns ist jeder Tag ein Fest, weil wir am Leben sind und kämpfen.

Wir werden feiern, dass wir einen Weg begonnen haben, der mindestens 120 Jahre dauern wird, vielleicht noch länger. Wir sind bereits seit über 500 Jahren unterwegs, somit fehlt nicht mehr viel, lediglich ein wenig mehr als 100 Jahre. Und das ist nicht mehr lange hin. Wie meinte José Alfredo Jiménez (*2): »Na hier, direkt hinterm Hügelchen«.

Aus den Bergen des Südosten Mexikos,

Subcomandante Insurgente Moisés


(Teil eines Interviews, durchgeführt vom Capitán Marcos, für die Tercios Compas. Copyleft: Mexiko, November 2023. Autorisierung durch den Rat der Guten Regierung, oh verdammt, es gibt ja keine Räte mehr … na gut, dann durch den autonomen Landkreis … die auch nicht … Ja, der Punkt ist, es ist autorisiert. Das Interview wurde im altmodischsten Stile verfasst; das heißt, so wie es Reporter in alten Zeiten machten: mit Notizheft und Kugelschreiber. Und das jetzt, wo noch nicht einmal an den Ort gegangen wird, um die Information zu suchen, sondern diese aus den Social Media-Kanälen gezogen wird. Ja, aber hallo: Das ist ein Jammer.)

Beglaubigt,

Der Capitán – die Cumbia mit dem Titel »Die Schnecken-Suppe« praktizierend.
Ahhh, schleif‘ dich – bis der dicke Schlitten im Schlamm steckt!